Lucy besucht den Opa

Lucy ist sauer auf ihre Mutter. Sie hat sie schon beim ersten Dämmerlicht aus dem Bett geholt – und das hasst Lucy – sie braucht am Morgen viel Zeit, um aus ihren Träumen zurückzukommen. Sie kann doch nicht mit einem Bein noch im Traumland sein und mit dem anderen Bein schon die Strumpfhose anziehen. Und außerdem würde Lucy sieben Stunden Bahn fahren müssen, was grässlich viel sitzen bedeutet.
Aber ihr Protest hat heute nicht geholfen. Die Mutter ließ sich nicht erweichen.

Und jetzt, am Ziel angekommen, steht Lucy auf dem Friedhof in Spiez und schaut den Menschen zu, die mit Gießkannen geschäftig vom Brunnen zu den Gräbern eilen und Blumen gießen.
Lucys Mutter buddelt mit einer kleinen Schaufel in Opas Grab herum, rupft Pflanzen aus und streicht die Erde glatt. Auf dem gelblichen Holzkreuz steht: Rafael Z. 1924 bis 2002. Rafael Z. ist Lucys Opa.

Wie langweilig es doch hier aussieht: lauter Holzkreuze mit Namen drauf, rundherum ein paar Blumen oder Tannenzweige. Weit und breit nichts, was an den wirklichen Opa erinnert hätte.
An den Opa, mit dem sie Ratespiele gemacht hatte, oder mit dem sie schaute, wer schneller die Hauptstadt von Frankreich wußte oder der ihr beim Himmel- und Hölle-Spiel zuschaute.
Dieser Opa war weg, und nie wieder würde er Lucy zuzwinkern und ihr im Lokal einen Sirup bestellen. Einen feuerroten, der nicht nach Himbeeren schmeckte sondern „Grenadine“ hieß – was immer das auch war – und der sehr ungewöhnlich und lecker schmeckte.

Also brauchte sie hier an diesem Grab auch nicht dumm rumstehen; Lucy schnappte sich eine Gießkanne und sagte, „Mama, ich geh spielen – ich bin Friedhofgärtnerin“.
Sie spazierte jetzt in wichtiger Funktion durch die Reihen der Gräber, begutachtete die Bepflanzung. Sie zupfte eine vertrocknete Pflanze hier und legte da ein Kranzband gerade hin, das der Wind verdreht hatte.

Manchmal entdeckte Lucy Wörter, die auf Grabsteine eingeritzt waren. So was wie: „Der Herr möge Dich beschützen“ (was Lucy komisch fand, denn wenn Gott den Menschen vorher beschützt hätte, dann wäre er jetzt nicht tot). Oder „in aufrichtiger Liebe und Dankbarkeit“, oder „wir werden uns wiedersehen“ Konnten denn Tote noch sehen und wenn ja, wo sollten sie sich treffen? Der Himmel war doch so unendlich groß und Lucy schien es unmöglich, da jemanden wiederzufinden, in dem Gewimmel.
Eigentlich wollte sie wieder nach Hause, und so brachte Lucy die grüne Plastikgießkanne zum Brunnen zurück und wollte gerade ihre Mutter am Ärmel zupfen, da sah sie die Schrift auf einem runden Stein auf Opas Grab: „Seh Navke Ixy By Ada“. Lucy kniff die Augen zusammen. Das war doch vorher noch nicht hier gewesen. Kein Stein, und schon gar keine Schrift. Das gelbe Holzkreuz war weg, und das gefiel Lucy. Sie mochte keine Kreuze, und schon gar nicht eins wo Rafael Z. draufstand.
Der Stein war schöner. Aber die Schrift? So eine Sprache hatte Lucy noch nie gehört. „Seh navke ixe by ada”

Ihre Mutter konnte ihr auch nicht weiterhelfen. Denn erstens sah sie keinen Stein, und zweitens auch keine Schrift. Sie nahm Lucy in den Arm und sagte „Lucy, wach auf. Hier ist bloß ein Holzkreuz mit Opas Namen.“
Doch Lucy schob die Mutter weg und schaute wie gebannt auf den Stein. Es war ein Stein, der glitzerte. Lucy setzte sich hin und betrachtete ihn. Sie las. Immer wieder, und jedes Mal wenn Lucy die fremden Worte leise vor sich hinmurmelte, blinkten sie in einer anderen Farbe auf. Erst grün, dann gelb, dann orange, dann rot ….. Und da…. mit einemmal wusste Lucy: Der Opa schickte ihr eine Botschaft. Ganz für sie allein. Lucy’s Herz klopfte ihr bis zum Hals. Sie wollte ihm antworten. Aber wie?
Und dann, gerade, als die Buchstaben von silber auf goldfarben wechselten, hatte Lucy eine Idee: sie schrieb mit ihrem Zeigefinger in leuchtend blauer Schrift die Antwort an den Opa in die Luft:„Naske xehby vai dea!!“

„Warum bist Du so fröhlich,“ fragte die Mutter, als sie Lucy abends ins Bett brachte.
„Ach, nichts“, sagte Lucy. „Gar nichts. Ich habe nur an den Opa gedacht“.

(Ruth Zenhäusern, 2003)