Roter Faden

Die Labyrinth-Sage enthält zwei wesentliche Elemente, die tief in unsere Kultur und sogar bis in die Alltagssprache eingedrungen sind: das Labyrinth bzw. der Irrgarten und der Rote Faden, welcher aus der Verirrung und Verwirrung wieder herausführen kann.
Auch die Tätigkeit des Schreibens kann zum Roten Faden werden, und dies sogar auf doppelte Weise: eben durch das Aufschreiben als Vorgang geistiger Konzentration und zugleich seelischer Entlastung – und innerhalb von den so entstandenen Texten als eine klare Linie, welche die dargestellten Gedanken ordnet.

Goethe und die Schiffstaue der britischen Marine

Wenn man die Wikipedia nach der Bedeutung des Begriffs „Roter Faden“ befragen, wird man auf Goethe verwiesen und dieser wiederum beruft sich auf Schiffstaue der britischen Marine im 18. Jahrhundert:


„Unter einem „roten Faden“ versteht man eine Spur, einen Weg oder auch eine Richtlinie. Etwas zieht sich wie ein roter Faden durch etwas.“
[Der Ausdruck ist] übernommen aus den „Wahlverwandschaften“ von Johann Wolfgang von Goethe:
„Wir hören von einer besondern Einrichtung bei der englischen Marine. Sämtliche Tauwerke der königlichen Flotte, vom stärksten bis zum schwächsten, sind dergestalt gesponnen, dass ein roter Faden durch das Ganze durchgeht, den man nicht herauswinden kann, ohne alles aufzulösen, und woran auch die kleinsten Stücke kenntlich sind, dass sie der Krone gehören.“ (Teil 2, Kapitel 2)
„[…] zieht sich durch Ottiliens Tagebuch ein Faden der Neigung und Anhänglichkeit, der alles verbindet und das Ganze bezeichnet.“ (Teil 2, Kapitel 4)

Der in die Schiffstaue eingesponnene rote Faden wird von Dichter also verglichen mit einem ständig sich wiederholenden Motiv inTagebuch der Protagonistin Ottilie.
Als Synonyme nennt die wikipedia: „ Grundgedanke, Grundmotiv, Leitmotiv
Als Beispiel genannt wird: „Die Bosheiten der Schwiegermutter ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte.“
Interessant ist noch der Hinweis, dass im Englischen von einem „goldenen Faden“ (golden thread) gesprochen wird, nicht von einem „roten“.
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4.000 Jahre zurück auf Kreta: die Labyrinth-Sage

Wir wollen nun etwas tiefer in die Menschheitsgeschichte eintauchen als es die Wikipedia unternimmt und gehen etwa 4.000 Jahre zurück, ins antike Kreta. Denn dieser „Rote Faden“ als Sinnbild und zugleich Metapher enthält weit mehr Gehalt als Goethe und die Schiffstaue der britischen Marine vermuten lassen.
Das Geheimnis des roten Fadens ist nämlich, so wie er in der Labyrinth-Sage gesponnen wird, ein dreifaches Geheimnis. Denn in diesem Sinnbild werden die drei großen Komponenten des menschlichen Lebens angesprochen, so wie sie die Tiefenpsychologie heutzutage sieht:

  • Zwischenmenschliche Beziehungen, speziell die Liebe zwischen Mann und Frau (in der Labyrinth-Sage vorgestellt durch die Beziehung zwischen dem Helden Theseus und der kretischen Prinzessin Ariadne).
  • Die mörderische Wut, zu der Menschen fähig sind (Tötung des Minotauros-Ugeheuers im Labyrinth). Diese Aggression kann in gezähmter Form zur segensreichen Aktivität gestaltet werden – Sublimation als ein wesentliches Ziel jeder künstlerischen Aktivität.
  • Jeder Mensch muss außerdem immer wieder Sinn in dem suchen, was er in dieser Welt erfährt und tut. Wenn dieser Sinn gefunden wird, hat man zugleich den „roten Faden“ des eigenen Lebens entdeckt.

Für die Leser mit psychoanalytisch-tiefenpsychologischen Kenntnissen stellt sich dies so dar, dass hier die drei großen Triebkräfte des menschlichen Lebens angesprochen werden:

  • Sexualität, (als biologische Kreativität – rot ist die „Farbe der Liebe“!),
  • Aggression (gestaltete Kreativität – rot ist auch die Farbe der Wut und des Zornes),
  • und schließlich der Narzissmus (als kreative Beziehung des Menschen zu sich selbst)

Der rote Faden bindet dies alles zu dem zusammen, was man die Lebenslinie des Universums nennen könnte: Kreativität.
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Symbol für Selbsterfahrung, Lebenserfahrung und Sinnsuche

Der „Faden der Ariadne“ ist für uns das Symbol für Selbsterfahrung, Lebenserfahrung und Sinnsuche – gewissermaßen der Weg, der in das „Labyrinth des Lebens“ hineinführt. Ariadne ist die erlösende Frau (Anima), die dem zunächst blind durchs Dunkel des Labyrinths tappenden Helden Theseus nach und nach die Augen öffnet – vorausgesetzt, man hat das Vertrauen, sich vom Faden führen zu lassen. Die rote Farbe des Fadens könnte für das Blut als Symbol für das Leben stehen.
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Was das mit dem Kreativen Schreiben zu tun hat?

Die Labyrinth-Sage enthält zwei wesentliche Elemente, die tief in unsere Kultur und sogar bis in die Alltagssprache eingedrungen sind: das Labyrinth bzw. der Irrgarten und der Rote Faden, welcher aus der Verirrung und Verwirrung wieder herausführen kann.
Auch die Tätigkeit des Schreibens kann zum Roten Faden werden, und dies sogar auf doppelte Weise: eben durch das Aufschreiben als Vorgang geistiger Konzentration und zugleich seelischer Entlastung – und innerhalb von den so entstandenen Texten eine klare Linie, welche die dargestellten Gedanken ordnet.
In dem, was wir im IAK in unseren Seminaren als Kreatives Schreiben vermitteln, kommt der Labyrinth-Metapher und dem Symbol des Roten Fadens noch eine weitere Bedeutung zu:

  • Weil wir die handwerkliche Seite des Schreibens (wie sie vor allem Journalisten und Berufsschriftsteller betonen) verbinden
  • mit den Möglichkeiten der Selbsterfahrung, bis hin zum Schreiben als Therapie und zur narrativen Psychotherapie (die sich auf die therapeutischenh E$ffekte des Erzählens stützt)
  • kann die Tätigkeit des Schreibens und der dabei entstehendenen Texte helfen, verlorengegangen Lebenssinn und damit den Roten Faden des eigenen Lebens wieder zu finden – oder überhaupt erst zu entdecken.

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Nebengedanke 1: Sigmund Freuds seltsame „Fehl“-Deutung

Es gibt wenige Grundthemen des Lebens, mit denen sich Sigmund Freud nicht beschäftigt hat. So interessierte ihn natürlich auch das Labyrinth-Motive und die dazugehörige Sage, schon als Teil des tradierten abendländischen Bildungsgutes. Er liefert allerdings eine etwas eigenartige Deutung der Labyrinth-Sage und des Ariadnefadens:


„… wie häufig gerade mythologische Themen durch die Traumdeutung Aufklärung finden. So läßt sich z.B. die Labyrinthsage als Darstellung einer analen Geburt erkennen; die verschlungenen Gänge sind der Darm, der Ariadnefaden die Nabelschnur.“ (1933, S. 26).

Das ist – mit Verlaub, großer Meister – Bullshit! Aber ein Aspekt dieser Deutung ist doch interessant: Wenn man „Denken“ als einen Akt des „Verdauens“ (nämlich von Informationen zu Wissen) versteht – dann paßt das Symbol des Labyrinth in der Tat zu dieser analen Deutung. Geburt als schöpferischer Prozeß – das paßt allemal.
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Nebengedanke 2: Das älteste Kunstwerks der Menschheit

Ein Beispiel, wie tief der Ausdruck „rotes Faden“ in die Umgangs- und gehobene Sprache (zum Beispiel der Feuilletons) eingedrungen ist, möge dies veranschaulichen:
In einer Höhle auf der Schwäbischen Alb wurde das (bislang) älteste Kunstwerks der Menschheit entdeckt: etwa 35.000 Jahre alt. Es wird vermutet, daß es sich dabei um die Anfänge der Kunst als magischer Praxis und „Zauberei“ von Schamanen handelt.
Im Artikel kommen die Begriffe Roter Faden und Irrgarten vor:

  • „Die Befunde weisen klar in eine Richtung: Die Geburt der Kunst vollzog sich [vor 35.000 Jahren] offenbar aus dem Geist der Magie. [. . .] Die ´alten Meister` des Paläolithikums sind zwar bald 1300 Generationen von uns Heutigen entfernt. Aber es gibt einen roten Faden [Hervorh. JvS], der eine Verbindung zu ihnen herstellt: Es sind die ´Wilden´ und Naturvölker, erforscht von der Ethnologie. “ (S. 139)
  • „Vieles an den Phantasiegestalten der Urzeit ist gleichwohl schwer zu verstehen. Die frühe Kunst gemahnt an einen farbenfrohen Irrgarten.“ (S. 145)

Quellen:
Spiegel Nr. 27 vom 2. Juli 2007 (Titel-Story) „Am Anfang war die Kunst“
Freud, Sigmund: Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1933), S. 26

(evtl. Ergänzen: Die japanische „Legende vom roten Faden des Lebens“)

#89 / Aktualisiert: 31. August 2013 / 17:47