Jede Erzählung enthält eine Reihe von Elemente, von denen die Personenbeschreibung sicher an vorderster Stelle steht. Diese stellen in unseren Seminaren zum Kreativen Schreiben ausgiebig vor und üben sie auf mannigfache Weise.
Die Anekdote als Variante der Personenbeschreibung
Anekdoten und Witze sind meistens Geschichten aus zweiter Hand, seltener selbst Erlebtes. Es handelt sich also um bereits vorgestaltete Stoffe. Vor allem wird Unwichtiges weggelassen, wird das Wesentliche herauspräpariert. Daraus kann man als Autor viel lernen.
Eine Anekdote hat zum Thema in der Regel eine amüsante skurrile Episode aus dem Leben eines Prominenten (oder eines Familienmitglieds, Verwandten, Freundes). Jede Schülerzeitung bettelt ihre Zulieferer unaufhörlich an um solche Miniportraits von Lehrern oder exponierten Schülern. In einer Familienchronik machen sie sich ebenfalls gut: Durch einige Anekdoten bekommt die ansonsten trockene Aufreihung von Ereignissen mehr Würze. Sie zeigen diese Personen von ihrer »menschlich allzumenschlichen«, mit einer Marotte, einem Tick, einer Schwäche — oder einer Stärke.
Die Anekdote charakterisiert einen Menschen durch eine betimmte Aktion. Damit wird sie zur dritten der vier möglichen Dimensionen einer Personenbeschreibung:
1. Skizzierung der äußeren Erscheinung.
2. Beschreibung des Inneren.
3. Soziokulturelles Verhalten (das, was sich in den Anekdote treffend und verzerrt zugleich widerspiegelt).
4. Spirituelle Werte (Religion, Vorstellungen über die Letzen Dinge).
Die Personen einer Story müssen sich entwickeln
Allgemein gilt: Die Personen einer Story müssen sich ebenso entwickeln wie die Handlung. Der Held verliert vielleicht an physischer Stärke – gewinnt dafür aber vielleicht Charisma als Führergestalt.
Die Anekdote ist so etwas wie eine Mikro-Story; sie illustriert die Biographien berühmter Leute und soll in Momentaufnahmen deren Charakter durch typische oder besonders auffällige Verhaltnesweisen erhellen. Es gibt ganze Anthologien, die nur »Anektdoten der Weltgeschichte« enthalten. Jürgen vom Scheidt will hier nicht auf eine solche Berühmtheit rekurrieren, sondern eine Story über seinen eigenen Urgroßvater Karl Eduard Kropf in Rehau erzählen:
Urgroßvater Kropf fährt mit der Bahn – anno 1920
Der „alte Kropf“, wie er respektvoll genannt wurde, genoss als wohlhabender Bauunternehmer einige Privilegien. Er musste öfter mit der Eisenbahn von Rehau ins benachbarte Hof fahren. Da er ein sehr beleibter Mann und schon recht kurzatmig war, andrerseits dem amerikanischen Slogan »Time is money« gehuldigt hat, spielte sich sein Gang zum Bahnhof folgendermaßen ab (das war um 1920, wohlgemerkt):
Sobald das Pfeifen der Lokomotive zu vernehmen war, welches ankündigte, dass der Zug sich dem Bahnhof näherte, rief dein Urgroßvater ins Büro: »Reicht mir mein Fahrtenbüchlein« (in dieses wurde jede Fahrt vom Conducteur für die monatliche Abrechnung eingetragen), schlüpfte in den ihm hingehaltenen Mantel mit dem kostbaren Pelzbesatz, drückte sich den unvermeidlichen Hut aufs Haupt und machte sich auf den beschwerlichen Weg der rund hundert Meter zum Bahnhof. Das dauerte natürlich eine Weile. Aber der „alte Kropf“ kam nie zu spät: Es war selbstverständlich, dass der Zug auf ihn wartete (wobei wahrscheinlich half, dass Urgroßvater eine zeitlang Mitglied des Stadtrats von Rehau gewesen ist). Der Conducteur schob ihn in das Coupé Erster Klasse – und dann erst ging die Fahrt los.
Als Jürgen vom Scheidt selbst viele Jahre später vom selben Bahnhof Rehau nach Selb in die Oberrealschule fuhr, hatte er ein ähnliches Problem zu bewältigen. Er musste schon frühmorgens zum Zug. Es war hart, um 6.00 Uhr aufzustehen; deshalb war er oft sehr spät daran und musste die selbe Strecke (er wohnte im Haus des einstigen Urgroßvaters) zum Bahnhof hochrennen. Aber so ändern sich die Zeiten: auf den Urenkel vom „alten Kropf“ hätte kein Zug gewartet…
Noch konzentrierter: ein Witz
Noch drastischer als die Anekdote verkürzt der Witz die Story, die er erzählt, auf das Wesentliche. Ein Beispiel: Es ist bekannt, dass Papier und Druckerschwärze großen Durst erzeugen*, und Journalisten machen kein Hehl daraus, dass sie diesen Durst gerne mit Alkoholischem löschen, am liebsten in gemütlicher Umgebung. Wen wundert daher, dass dies ein beliebter Insider-Witz der schreibenden Zunft ist:
»Geht ein Journalist an einer Kneipe vorbei …“
Das ist auch schon alles. Dieser Witz charakterisiert nicht nur anekdotenhaft eine Person (durch einen bestimmten Charakterzug), sondern erzählt zugleich eine komplette Geschichte in einem einzigen Satz und enthält dennoch alle wesentlichen Elemente einer Erzählung:
Eine Person (den Journalisten, dem man das Lieblingslaster seiner Branche unterstellt),
einen Schauplatz (die Kneipe bzw. der Platz davor) und
einen Konflikt („Einkehren und Alkohol trinken“ contra „Weitergehen ohne Alkoholkonsum“).
* Hinter diesem großen »Durst« stecken genau genommen Schreib- und Kreativitätsblockaden, welche mit Alkohol aufgelockert werden sollen (was allerdings nur im Anfangsstadium gelingt).
Weitere Fortsetzungen dieses Themas in den kommenden NewsBlogs des IAK:
° Kleiner Exkurs über die Namen von Figuren
° Das Pseudonym ist nicht nur ein Versteck
° Sonderfall „Harry Potter“
° Zum Abschluss ein kleines Schreib-Experiment