Bedenke das Ende!

Jede Kurzgeschichte sollte eine Pointe haben – also einen überraschenden Schluss-Punkt (von französ. „point“ = „Punkt“). Das muss nicht immer ein „Knaller“ sein, wie sie für die klassische amerikanische Short Story so typisch sind. Heinrich Böll beendet seine berühmte „Weihnachtsgeschichte“ mit einem sehr leisen, aber im Grunde richtig heimtückischen „Frieden, Frieden“.

Beim Krimi sollte als Autor sowohl den Täter wie die Umstände seiner schrecklichen Tat und seine Motive dafür kennen, bevor man richtig loslegt – also sehr vom Ende her denken und arbeiten. Gewiss – man kann auch einen Roman von tausend Seiten starten, indem man einfach damit beginnt, getreu der alten chinesischen Weisheit aus der Smaragdenen Felswand: „Der Weg ist das Ziel“. Und sich erst am Schluss des Manuskripts Gedanken über das Ende machen. Aber leichter ist es, wenn man das Ziel der Reise bereits kennt. Eine schöne Übung hierfür ist der „Letzte Satz“. Probieren Sie es einmal selbst aus, eine Geschichte zu schreiben, die so endet:

„Reich mir die Butter, Cherie.“

Dieses Experiment habe ich schon in so mancher Schreib-Werkstatt mit den Teilnehmern durchgeführt und viel vergnügliche Ergebnisse geerntet. Oder wie wäre es mit diesem Schluss: „Das hat dir der Teufel gesagt!“
(Und wo wird das gesagt? Das wird am Schluss dieses Textes verraten *.)

Und womit hat wer welchen Roman beendet mit diesen beiden Sätzen beendet?

„Ein Wirbelsturm urtümlicher Kräfte trug mich ins Reich der Wonne. Und hoch, stürmischer als beim iberischen Blutspiel, sah ich unter meinen glühenden Zärtlichkeiten den königlichen Busen wogen.“

Sie werden es wohl kaum erraten. (Auch diese Auflösung finden Sie am Schluss dieses Newsletter unter dem Impressum.)

 

Auch so kann eine eigene Geschichte entstehen:

Man liest die Story eines anderen Autors – und ist enttäuscht vom Schluss. Passenderweise fällt einem eine bessere Pointe ein. Also, auf geht´s! Schreiben Sie ihre eigene Story – auf diesen neuen Schluss hin.

Ich habe das einmal selbst durchexerziert, weil ich von einer Kurzgeschichte des bekannten SF-Autors Robert Sheckley enttäuscht war. Der war in den 1950er und 1960er Jahren berühmt für seine Ideen und Pointen. Aber das Ende seiner Story „The Ultimate Weapon“ hatte er meiner Meinung nach vergeigt, weil absehbar war, dass es darum ging, das gesamte Universum mit dieser „endgültigen Waffe“ zu vernichten. Also beschloss ich, die ganze Idee gewissermaßen umzudrehen und dachte mir eine außerirdische Kultur aus, für die Waffen und Kriege etwas so Schreckliches sind, das man beschließt, sie ein für allemal abzuschaffen muss. Dementsprechend sind die neugierigen Archäologen, welche diese ausgestorbene Zivilisation auf einem fernen Planeten entdecken und untersuchen, sehr überrascht, als die „endgültigen Waffen“, die sie in einer Höhle wie in einem Heiligtum entdecken, dies sind: Messer, Streitaxt und Pfeil und Bogen.

Ich dachte dabei auch an die Chinesen des Altertums, die das Schießpulver lange vor den Europäern erfunden haben und es angeblich als Waffe so schrecklich fanden, dass sie es nur für Feuerwerk verwendeten, also gewissermaßen zum Vergnügen und nicht zur Kriegsführung. Einer kleinen Fernseh-Zeitschrift gefiel die Idee und meine Story so gut, dass sie mir dafür 800 Mark bezahlte. Leider verhunzte die Redakteurin den Schluss – keine Ahnung mehr, wie das dann ausging. („Die geheimnisvollen Waffen“, in  „tele-14“ vom 5. Mai 1970). Auch so kann das Ende einer Geschichte also entstehen: Rein zufällig, oder weil vielleicht ein halber Satz zu viel dastand und der gestresste Drucker in der Schlussredaktion kürzen musste, weil sonst das Layout der Druckseite gesprengt worden wäre. Man kürzt eben üblicherweise Texte – vom Ende her.

Ernüchterung der Existenzialisten

Während und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte nicht nur Ernüchterung und Entsetzen – die Existenzialisten waren überzeugt davon, dass alle früheren Gewissheiten mit der Barbarei untergegangen und die vertrauten Antworten auf die wesentlichen Fragen nicht mehr stimmten. Bert Brecht brachte es in der Der gute Mensch von Sezuan im Jahr 1943 so auf den Punkt:

Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen
Den Vorhang zu und alle Fragen offen.

 

Wie beendet man einen Roman?

Vor Jahren las ich in der Süddeutschen Zeitung ein Interview mit einem bekannten deutschen Schriftsteller (wenn ich mich recht erinnere, war es Uwe Timm, Autor von „Die Entdeckung der Currywurst“) , bei dem es auch um das „Beenden“ eines Roman ging. Seine Auskunft war sinngemäß:
Es fällt mir schwer, mit dem Schreiben aufzuhören. Es kommt immer wieder eine neue Idee, wie es anders aufhören könnte, das ist nie zu Ende. Also muss man einfach aufhören, gleich wie.

Das hat mich enttäuscht. Wer mit dem Konzept der Heldenreise vertraut ist, weiß, dass es dabei eigentlich immer um das Auffinden eines Schatzes geht, der für etwas Kostbares steht – sei es eine schöne Prinzessin (die man vor einem Drachen rettet), sei es die Entlarvung eines Mörders durch einen findigen Detektiv, sei es eine chemische Formel oder ein neues Medikament oder sei es ganz trivial eine Kiste mit Goldmünzen aus der Römerzeit.

Die Geschichte ist erst dann zu Ende erzählt, wenn der Held den Schatz nicht nur gefunden, sondern auch in die Oberwelt gebracht hat. Aufs Handwerk des Schreibens übertragen: Der Autor kann in seiner kreativen „Unterwelt“ einen noch so tollen Roman geschrieben (also diesen „Schatz“ gefunden) haben – wenn er / sie das Manuskript nicht veröffentlicht (= in die „Oberwelt“ des Buchmarktes bringt), dann ist diese Geschichte nicht zu einem guten Ende gebracht.

Ein nicht vorhersehbarer Schock ist es, wenn ein Krimi so endet, dass eine von einem Serienkiller als nächstes Opfer ins Auge gefasste junge Frau sich (mit dem mitbangenden Leser) bereits gerettet glaubt – und in den letzten Zeilen begreift, dass sie der Mörder JETZT töten wird. Das ist zutiefst unmoralisch und sollte nicht zu oft exerziert werden – Susanna Moore hat es gewagt in ihrem Thriller Aufschneider (In the Cut, New York 1995 / dt. Reinbek 1997).

Wie beendet man ein Märchen?

Worum auch immer es in einer Geschichte geht, gleich ob Roman, Kurzgeschichte, Märchen, Film oder Theaterstück: Die Leser sehnen sich nach einem guten Ende – einem „Happy End“.  Interessanterweise enden deutsche Märchen fast immer mit dem eher pessimistischen Satz: „Und wenn sie nicht gestorben sind – dann leben sie noch heute“.
Amerikanischer Optimismus hingegen lässt Märchen so enden: „And they lived happily ever after.“

 

Berühmte Enden

Noch rollt der Stein. (…) Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt ihm weder unfruchtbar noch wertlos vor. Jeder Gran dieses Steins, jedes mineralische Aufblitzen in diesem in Nacht gehüllten Berg ist eine Welt für sich. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“
Albert Camus: Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. (Paris 1942, dt. 1950)

„Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“
Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus (Wien 1921 / London 1922). Dissertation und erstes Hauptwerk des österreichischen Philosophen (1889–1951).
Das Werk wurde während des Ersten Weltkriegs geschrieben und 1918 vollendet. Es erschien mit Unterstützung von Bertrand Russell zunächst 1921 in Wilhelm Ostwalds Annalen der Naturphilosophie. Der letzte (7.) Abschnitt des Tractatus besteht lediglich aus obigem prägnanten und vielzitierten Satz.

„Heinrich! Heinrich!“
Johann Wolfgang von Goethe, Faust 1 (1808).
Dies sind Gretchens flehentliche Abschiedsrufe an den eigentlich Schuldigen der Tragödie, während die Unglückliche in der Gefängniszelle auf ihre Hinrichtung wartet. Ganz anders, viel philosophischer (und tiefenpsychologischer) endet Teil 2 (182 posthum):
„Das Ewig-Weibliche
zieht uns hinan.“

Auch eine Möglichkeit:

Jeder Asterix-Comic endet mit einem Wildschwein-Fressgelage.

Ein Patent-Rezept für „gute Schlüsse“ könnte so lauten:

Das Rätsel ist gelöst.
Das Geheimnis ist gelüftet.
Das Thema ist fertig behandelt.
Die Heldenreise ist zu einem guten Ende gebracht.
Der Held hat sich menschlich weiterentwickelt.
Der Schatz ist geborgen.
Die Geschichte ist auserzählt.

Lese-Tipp

Rund 500 letzte Sätze, exzerpiert und wohlsortiert“ findet man in Harald Becks aufschlussreichen Kompendium „Roman-Enden“ (Zürich 1993, Hafmanns Verlag). In der (einzigen) Leser-Rezension auf amazon.de liest man hierzu:
„Ebenso wie sein Vorgänger – Roman-Anfänge – wirklich sehr lehrreich (für angehende Schreiberlinge) und interessant/vergnüglich (für Quer-/Schnell-Leser). Schade ist nur – und daher nur vier Sterne – dass man nicht die Roman-Enden genommen hat, die im ersten Teil zu den Anfängen „gehörten.“

Ähnliches bietet, wenngleich beschränkter und umfassender zugleich, Pablo Bernasconi in „Ende – Berühmte letzte Sätze der Weltliteratur“ (München 2016, mixtvision Mediengesellschaft). Die Beschreibung des Buches (vermutlich durch den Verlag):
„Von Franz Kafka bis James Joyce, von Homer bis Goethe – der argentinische Künstler Pablo Bernasconi hat die jeweils letzten Sätze von 56 weltberühmten Romanen und Texten gesammelt und dazu treffende und außergewöhnliche Illustrationen und Collagen geschaffen. Im Deutschen versammelt dieser Band die Standardtexte der Werke von Herman Hesse, Samuel Beckett und vielen mehr.
Ein hochwertig ausgestatteter Kunstband, der Lust macht, alte Klassiker wieder oder zum ersten Mal zu lesen und einen ganz neuen Blick auf die bekanntesten Texte der Weltliteratur zu werfen.“

Memento mori

Auch das eigene Leben sollte man vom Ende her bedenken – gemäß der Maxime der Römer: „Memento mori“ – „Bedenke, dass du sterben musst.“

Und wie hört mein eigenes Roman-Projekt auf, an dem ich gerade arbeite?

Am ENDE bin ich, rein zufällig just heute, da ich diese Zeilen für den Newsletter schreibe, mit den Vorarbeiten. Für das eigentliche Manuskript, in das ich jetzt mit Volldampf hineinsteige (wenn ich dieses kühne Bild, diesen schrägen Vergleich gebrauchen darf) existieren zur Zeit 88 verschieden Schlüsse. Da könnte einem Angst und Bange werden. Aber ich bin zuversichtlich, dass auch dies einen guten Schluss finden wird, also ein überzeugendes
ENDE

* Märchenkenner wissen, aus welchem der Grimmschen Märchen dieser Satz stammt: Den ruft das Rumpelstilzchen, nachdem sein geheimer Name enttarnt wurde, und reißt sich selbst voller Zorn mitten entzwei. Sein Pech, dass er nun nicht mehr die Müllerstochter haben kann, die der Preis dafür war, dass er für ihren großmäuligen Vater Stroh zu Gold gesponnen hat.

Die  Auflösung der 2. Rätselfrage: Es handelt sich um die Schluss-Sätze des Romans „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ von Thomas Mann (unvollendet erschienen 1954).