Glücksmomente
Glücksmomente, oder: Was ist wert, aufgeschrieben zu werden?
Der Weg durch den Park, nur ein im Lauf der Jahre entstandener Trampelpfad, ist sonst nach Regen völlig aufgeweicht. Aber diesmal sieht er ganz anders aus: Arbeiter der Verwaltung haben Holzspäne darüber gestreut. Ihr helles, fast gelbes Beige leuchtet im Sonnenschein und sieht zusammen mit dem frischen Grün des Rasens rechts und links wunderschön aus. Der Anblick berührt mich so, dass ich ein richtiges Glücksgefühl verspüre. Noch jetzt, Tage später, ist es mir im Aufschreiben wieder gegenwärtig. –
Ein anderes Beispiel: Ich wandere am Westufer des Starnberger Sees, zwischen Possenhofen und Tutzing, vorbei an der Roseninsel. Ein schöner Tag, nicht zu heiß, weil eine frische Brise weht und ein wenig Kühlung bringt. Segelboote kreuzen hart m Wind oder ziehen mit geblähten Segeln davon. Die Briese zaubert kleine Wellen auf das Wasser. Kinder planschen am Ufer, zwei ältere Damen vergnügen sich im Wasser. In der Ferne, im mittäglichen Dunst wie die Kulisse für ein Theaterstück, die Kette der Werdenfelser Alpen. Wieder ein Glücksgefühl. Sicher schon tausendmal erlebt (weshalb ich diesen See so liebe) – und nun, im Hinschreiben dieser Zeilen, vermeine ich förmlich zu spüren, wie die Endorphine von meinem Gehirn ausgeschüttet werden, ausgelöst durch die starke Erinnerung. –
In der Post ein kleines Päckchen. Ich ahne schon, was darin sein wird. Als ich es öffne, erscheint tatsächlich das Romanheftchen, das ich drei Wochen zuvor über Amazon bestellt hatte. Das erst falsch adressiert war, zum Verkäufer zurückging – und das nun endlich doch bei mir gelandet ist: Jim Parkers Abenteuer im Weltraum, Heft 12 von Anfang 1954: In den Dschungeln der Venus. Die Glückshormone schießen durch mein Gehirn und von dort, so fühlte sich das jedenfalls an, durch meinen ganzen Körper. Ich bin wieder 13 Jahre alt und stehe am Mittwochabend vor dem Kiosk im Bahnhof von Hof, wo hoffentlich schon die Fortsetzung von Jims Abenteuern auf mich wartet. Ich bin extra 14 km mit dem Fahrrad von meinem Heimatort Rehau in die Nachbarstadt gefahren, weil ich inzwischen weiß, dass diese tollen Schmöker, die üblicherweise erst am Donnerstagvormittag am Rehauer Kiosk zu erwerben sind (wenn sie mir nicht jemand anderer vor der Nase wegschnappt) im Hofer Bahnhof schon am Abend zuvor ausliegen. Ich habe Glück, lege meine 50 Pfennige für das neue Heft auf den Tresen des Hofer Kiosks, packe es hinten auf den Fahrradträger, gut geschützt in einer Tasche. Dann trete ich in die Pedale, was die Beine hergeben, rase durch Hof hinaus an den Stadtrand, strample auf einem kleinen Weg hoch zum Waldrand, schiebe das Rad die letzten steilen Meter und setze mich dann aufatmend ins Gras, lehne mich an einem Baumstamm, öffne die Tasche und nehme die Dschungel der Venus heraus, bestaune erst lange das Titelbild mit bedrohlich aufgerichteten Stegosauriern und versinke in der Geschichte, die da erzählt wird. Seit Anfang 1953 tauche ich jeden Monat in ein neues Heft ein – und bin in einem Zustand, den ich rückblickend aus dem Jahr 2019, nur als glückselig bezeichnen kann. Ein Gefühl, dass ich, der Jugendliche, der Dreizehnjährige, sonst vor allem kenne, wenn ich gerade wieder mal in ein Mädchen verliebt bin. –
Ist es nicht wunderbar, dass sich solche schönen Erlebnisse reaktivieren lassen? Denn offensichtlich sind sie, wenn auch manchmal tief unten in den früheren Jahren vergraben, in unseren Gedächtnisspeichern bestens aufbewahrt und können wiederbelebt werden.
Was ist es wert, aufgeschrieben zu werden?
Es gibt grundsätzlich drei verschiedene Arten von Erlebnissen:
° Die alltäglichen, die sich ständig wiederholen, an die wir gewöhnt sind, die nichts oder wenig Neues bringen.
° Dazu, im Gegensatz, die besonderen Erlebnisse – einerseits die angenehmen, die schönen – wenn wir Glück haben die uns in einem guten Sinn aufregenden Stimmungssaufheller, die wir als Glücksmomente erleben.
° Und andererseits die unangenehmen bis schrecklichen Ereignisse, Unfälle, Krankheiten, herbe Verluste – alles eben, was wir nicht so gern oder am liebsten überhaupt nicht erinnern. Der Zitatenschatz weiß hier gleich guten Rat: „Glücklich ist, wer vergisst – was doch nicht zu ändern ist.“ Eine Weisheit aus der Operette Die Fledermaus von Johann Strauß, (Libretto von Karl Haffner und Richard Genée):
„Flieht auch manche Illusion,
die dir einst dein Herz erfreut,
gibt der Wein dir Tröstung schon
durch Vergessenheit!
Glücklich ist, wer vergisst,
was doch nicht zu ändern ist.“
Aber ist das wirklich so – dass Vergessen hilft? Dann wäre er jede Psychotherapie, speziell die Psychoanalyse, sinnlos, die man doch gerade deshalb aufsucht, um die unangenehmen Geschichten zu erinnern, aufzuarbeiten und dadurch auch ein Stück weit loszulassen. Wenn es dann noch richtig traumatisch wird, empfehlen Trauma-Experten gerne auch, das Erlebte nicht immer wieder durchzukauen und dadurch neu zu beleben, sondern es tatsächlich loszulassen in den Orkus des Vergessens.
Ganz anders ist das natürlich, wenn man schreibt. Denn gerade solche schrecklichen Ereignisse sind ja – auch wenn das nun seltsam klingen mag – hervorragender Stoff für das Erzählen. Warum sonst würden so viele Kriegs- und Gräuelgeschichten berichtet?
Das therapeutische Schreiben, wie man es auch nennt, setzt sich ja gerade zur Aufgabe, das schreckliche, das unangenehme, dass belastende Material noch einmal anzuschauen und dadurch tatsächlich ein Stück weit seiner negativen Gefühlen zu entladen. Wenn diese Erinnerungsarbeit dann auch noch anderen Menschen (Lesern) etwas bedeutet und sie dafür Geld bezahlen, was beim Autor als Honorar landet, hat sich diese Erinnerungsarbeit tatsächlich gelohnt, doppelt sogar. Auch wenn sie den erinnernden Autor vielleicht nicht völlig von den Schrecken der Vergangenheit erlöst.
Doch auch die weniger aufregenden Ereignisse und Erlebnisse sind durchaus brauchbarer Stoff für das Erzählen. Sie sind gewissermaßen die „grundierte Leinwand“, auf die dann das Besondere gemalt wird. Erzählen lebt auch von den Kontrasten!
Doch nun nun endlich wieder zu jener ganz speziellen Art von Erlebnissen, die gerade nicht belastend und negativ aufgeladen sind, sondern im Gegenteil schön, ja beglückend.
Glücksgefühle schreibend erinnern: Sun Koh, Jim Parker und andere Verliebtheiten
Gefühle nicht beschreiben – sondern im Leser erzeugen – das empfiehlt Suspense-Meister Edgar Allen Poe. Wie macht man das – Gefühle erzeugen? Ganz einfach: Indem man viele Details zusammenträgt und in einem sinnvollen Zusammenhang bringt. Auch die emotionale Resonanz im Sinne von Carpenter hilft – also Sitationen mit Worten erschaffen, in denen die Bewegung einer Figur im Leser entsprechende Mitreaktionen hervorruft: Der Held hat schrewcklichen Durtst – der Leser läuft in die Küche und holt sich ein Glas Wasser. Die Heldin gähnt – der Leser gähnt mit ihr. Die Spannung steigt, der Held flüchtet – die Leserin bekommt heiße Wangen und Herzklopfen, weil ihr Köprer automatisch mitfühlt und mitflüchtet.
Probieren Sie es einmal aus. Und vor allem:
Sammeln Sie selbst erlebte Glücksmomente. Schließen Sie die Augen in angenehmer Ruheposition. Erinnern Sie sich – an die erste Verliebtheit, den ersten Kuss (wenn das eine angenehme Erfahrung war), an das Betreten eines Berggipfels nach anstrengendem Aufstieg. An eine aufregende Lektüre, die vielleicht sogar Ihrem Leben eine neue Richtung gegeben hat, einen tollen Film der letzten Zeit – es gibt tausende von solchen Momenten in ihrem Leben. Ein wahrer Schatz, der durch den Vorgang des Erinnerns und speziell des Aufschreibens der Details wieder lebendig wird, sich auf diese Weise mit anderen Erlebnissen dieser Art vernetzt. Bauen Sie gezielt ein Neuronales Netz in Ihrem Gehirn auf, das die Glücksmomente nicht nur speichert – sondern abrufbar erhält. Wenn Sie das zusätzlich aufschreiben, vielleicht sogar in einem kleinen Büchlein zusammenfassen und ausdrucken – haben Sie bald eine wahre Schatzkammer Ihrer Persönlichkeit und Ihres Lebens. Dazu noch ein Schlüsselwort wie das zaubermächtige „Sesam öffne dich“…
Anlässlich eines Treffens von Science-Fiction-Fans im oberbayrischen Unterwössen im Sommer 2019 habe ich einen Vortrag gehalten, der meine Glücksmomente mit utopischen Romanheften wie Jim Parkers Abenteuer im Weltraum, Sun Koh – der Erbe von Atlantis und Perry Rhodan – der Erbe des Universums beschrieb und – wenn ich mich nicht sehr täusche – so manches verständnisvolle und erinnerungsselige Leuchten in die Gesichter der Zuhörer gebracht hat. Diese Heftchen wurden von den Eltern als „Schmutz und Schund“ verdammt und von den Lehrern eingesammelt und sogar – man staune – im Schulhof öffentlich verbrannt – und das gerade mal zwanzig Jahre nach den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten. Niemand von den Erwachsenen interessierte sich für die Inhalte dieser Geschichten, die wir Jugendlichen so liebten, in denen wir die Welt und sogar das ganze Universum kennenlernten – und, wie erwähnt, so manches Glückserlebnis hatten.
Neu aufgenommen: 25. Juni 2019