Anfangen!

Der Türknauf öffnete ein blaues Auge

Zu diesem „Türknauf“ und dem „blauen Auge“ gleich noch mehr – das soll, wie jeder gute Anfang, zunächst einmal Ihre Neugier wecken. Aber erst einmal zum Grundsätzlichen:

Die Aufforderung „Anfangen“ hat dreierlei Bedeutung:
° Sie ist zunächst eine allgemeine Aufmunterung, die zu Sylvester /vielleicht) gefassten „Guten Vorsätze“ wirklich anzugehen.
Sie ist, autobiographisch betrachtet, eine ganz spezieller „guter Vorsatz“, der mein eigenes aktuelles Roman-Projekt angeht (was ich hier nicht näher erörtern möchte).
° Sie ist ein Spezialthema des „Handwerks des Romanschreiben“ – auf das ich gleich näher eingehen werde, verbunden mit einer Buchempfehlung.

Falls Sie eine Geschichte oder gar einen umfangreichen Roman nur für sich selbst schreiben wollen, „für die Schublade“ gewissermaßen, brauchen Sie sich über die folgenden Hinweise keine Gedanken zu machen. Außer Ihnen liest das dann ja eh niemand. Doch wenn Sie die Absicht haben,
° Ihre Erzählung zu veröffentlichen, für andere, Ihnen unbekannte Leser
° oder wenn Sie gar Geld damit verdienen wollen,
– ist es ratsam, sich darüber Gedanken zu machen, wie Ihr Werk beim Publikum ankommen könnte.

Speziell dem Anfang kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, denn der soll ja
° nicht nur die Leser „an den Angelhaken nehmen“,
° und Kritiker in den Medien überzeugen,
° sondern schon Lektor und Verleger des potenziellen Werkes neugierig machen
° oder bereits einen Buchagenten (wenn Sie vorhaben, so jemanden einzuschalten – was durchaus ratsam ist).


The doorknob opened a blue eye

In dem Büchlein Romananfänge hat Harald Beck „rund 500 erste Sätze excerpiert und wohlsortiert“, mit denen ebenso viele Romane beginnen. Einige diese Bücher hatte ich ebenfalls gelesen, zum Beispiel George Orwells 1984, jenes Opus, das durch den beängstigenden Aufstieg von Autokraten wie Donald Trump zur Zeit leider wieder brandaktuell geworden ist. Der Roman beginnt so:

„Es war ein strahlend-kalter  Apriltag , und die Uhren schlugen dreizehn.“

Ein wirklich guter Einstieg in die dystopische Welt, in die Orwell uns da hineinzieht. Warum habe ich ihn mir nicht gemerkt? Warum ist der einzige dieser vielen Sätze (den Beck nicht einmal kennt oder zumindest nicht erwähnt), der sich in mein Gedächtnis regelrecht eingebrannt hat, ein völlig anderer Einstieg in eine Geschichte, wenngleich ebenfalls aus einem utopischen Roman, nämlich das eingangs auf Englisch zitierte und hier ins Deutsche übertragene:

Der Türknauf öffnete ein blaues Auge

So habe ich ihn erstmals 1958 in einem Science-Fiction-Heft gelesen, einem richtigen Groschenroman, wie man das früher genannt hat. Philip K. Dick hat diesen Satz an den Anfang gestellt von seinem Roman The World Jones made. Er bereitet damit den Einstieg in eine fremdartige Welt vor, wenngleich hier auf der Erde, in der es um Halluzinationen geht. Na klar – wenn ein Türknauf ein blaues Auge öffnet – was kann das schon andere sein als Teil einer Wahnvorstellung oder eines jener LSD-Trips, die Dick nicht fremd waren.
Wenn Sie nun mehr über diesen „
Türknauf“ und dieses „
blaue Auge“ an dieser Stelle erfahren wollen, muss ich sie leider enttäuschen. Ich habe nämlich alles andere von dieser Geschichte vergessen und das Buch selbst ist infolge etlicher Umzüge den Weg alles Irdischen gegangen. Kein Wunder, dass ich alles andere vergessen habe – die Lektüre ist ziemlich genau 60 Jahre her. Seitdem habe ich buchstäblich Tausende weiterer Romane gelesen, Science Fiction (in meiner Jugend gerne als „Schmutz und Schund“ disqualifiziert) ebenso wie „gute Literatur“ von Albert Camus, James Joyce, Henry Miller, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll. Ich war ein Allesfresser. Aber von diesen unzähligen Anfängen ist mir heute noch nur dieser eine präsent, wie eine Fanfare:

Der Türknauf öffnete ein blaues Auge

Wenn Ihnen als Autor so etwas gelingt, haben Sie nicht nur den „Fuß in die Tür“ der Leser gesetzt, wie man so anschaulich sagt, sondern sich im Leben Ihres Lesers einen guten Platz gesichert. Ich bin Philip K. Dick viele Jahre als Leser treu geblieben, habe etliche seiner Roman wie Blade Runner (dt. Träumen Androiden von elektrischen Schafen?) und Solar Lottery fasziniert verschlungen und mir jede der – bislang – neun Verfilmungen seiner Geschichten mehrmals angeschaut, zuletzt Minority Report, Total Recall (mit Arnold Schwarzenegger in einer seiner besten Rollen) und die Fortsetzung Blade Runner 2049. Ich bin mir sicher, dass das blaues Auge auf diesem Türknauf zu dieser die Jahre überdauernden Faszination maßgeblich beigetragen hat.

Wenn einem als Autor so etwas gelänge , sich beim Publikum so einzuprägen! Wenn es dafür so etwas wie ein Kochrezept gäbe!
Nun, dafür gibt es natürlich keinerlei Garantien – aber es gibt es vergleichbar Hilfreiches, nämlich die Vorschläge, die der Autor Edgerton in seinem Ratgeber für Autoren macht, dem er den griffigen Titel Hooked  gibt. Das heißt frei übersetzt, aber im Deutschen leider weit weniger anmachend: „Geködert„.

Les Edgerton über gelungene Roman-Anfänge

„Die Eröffnung einer Kurzgeschichte oder eines Romans ist genau das – der Anfang. Das ist die einfache und unkomplizierte Definition. In diesem Buch geht es jedoch darum, die Unterschiede zwischen guten und schlechten Eröffnungen zu veranschaulichen – auch wenn es vielleicht am besten ist, Wörter wie gut und schlecht nicht den Eröffnungen zuzuordnen. Stattdessen werden wir über und die Beschreibung von Eröffnungen sprechen, die funktionieren und Eröffnungen, die nicht funktionieren.“
Man  erfährt in Edgertons Ratgeber nicht nur  
etwas über das Anfangen, sondern auch über allerlei „Enden“ (Handlungsbogen, Charakterentwicklung etc) – denn die Details eines guten Anfangs zielen ja in die „Ferne“ der Geschichte, sollen neugierig machen und Lust, weiter zu lesen, eben möglichst bis ans Ende der Geschichte.

Leider befolgt der Autor dieses Ratgebers seine Ratschläge für den ANFANG nicht selbst, sondern traktiert einen erst umständlich mit Danksagungen und allerlei Vorreden. Dennoch: Was er dann über das ANFANGEN mitteilt, hat Hand und Fuß. Ich fasse die, wie er es nennt, KOMPONENTEN EINER ERÖFFNUNGSSZENE zusammen. Eine Eröffnungsszene besteht aus zehn Kernkomponenten:
(1) das anregende Ereignis;
(2) das geschichtenwürdige Problem;
(3) das anfängliche Oberflächenproblem;
(4) das Setup;
(5) die Hintergrundgeschichte;
(6) ein beeindruckender (stellarer) Eröffnungssatz;
(7) Sprache;
(8) Charakter;
(9) Einstellung; und
(10) Vorahnung.

Eine Menge Ratschläge, die es da zu beachten gilt. Aber es lohnt sich, wie Edgerton anhand praktischer Beispiele verschiedener Autoren im Verlauf seines Ratgebers anschaulich darlegt. Das Buch gibt es nur in einer englischen Ausgabe, die aber bei einigermaßen guten Fremdsprachenkenntnissen leicht verständlich ist.
Mit dem Titel – dem wichtigsten „Köder“ eines Buches (falls man noch nicht so bekannt ist wie Stephen King oder William Shakespeare oder eben Philip K. Dick) macht man naturgemäß den allerersten Anfang. Der ist Edgerton mit „Hooked“ auf jeden Fall gelungen.
Es gibt von seinem Ratgeber – über Amazon erhältlich – drei Ausgaben: als E-Book (für den Kindle: 7,70 €), als Paperback (27,32 €)  und als Hardcover (94,64) sowie als gebrauchte Exemplare.

Bibliographie
Beck, Harald (Hrsg.): Romananfänge. Zürich 1992 (Haffmans Verlag).
Dick, Philip K.: The World Jones made. New York 1954. Deutsche Übersetzung: Geheimprojekt Venus. Hamburg 1958 (Alfons Semrau Verlag).
Edgerton, Les: Hooked. Cincinnati 2007 (Writer´s Digest Books).
Orwell, George: 1984. London 1948.