Lucy und Opas Seele

In der Küche war etwas anders als sonst: Mama saß auf Papas Schoß und weinte. Lucy erschrak so sehr, dass es sich anfühlte, als ob jemand ein Messer in ihr Herz gestochen hätte. Sie stand da und sah ihre Eltern fassungslos an. Etwas Schreckliches musste passiert sein, wenn schon die Eltern weinten.
Mama schluchzte und sagte, der Opa in Visp sei gestorben. Gestorben? Wie war das, wenn man gestorben war? Außer tote Maikäfer und eine tote Maus hatte Lucy noch nie etwas Totes gesehen. Und bei den Tieren war es so, dass sie sich nicht mehr bewegten und selbst wenn man sie anstubste, rührten sie sich nicht mehr. Meistens lagen sie dann auf dem Rücken und streckten die Beine in die Luft.

Als Lucy mit ihren Eltern im Zug nach Visp fuhr – dort wo Oma und Opa lebten – stellte sie sich den Opa vor, wie er dalag und sich nicht mehr bewegte. Lucy’s Mama hatte gesagt, dass die Seele weiterlebte, wenn der Mensch tot war. Eine solche Seele möchte Lucy gerne sehen – vielleicht wäre die vom Opa ja noch da, wenn sie sich ein wenig beeilten und noch früh genug vor der Beerdigung dort waren. Vielleicht könnte die Seele ja auch die vielen Fragen beantworten, die Lucy durch den Kopf gingen, und auf die sie keine Antwort hatte. Denn während der ganzen Bahnfahrt hatte niemand mit ihr gesprochen und sie hatte sich auch nicht getraut, etwas zu fragen. Die Eltern waren so still während der ganzen Fahrt. Sie starrten in einem fort aus dem Fenster und schnäuzten sich nur ab und zu die Nase.

Als sie in der Wohnung der Großeltern ankamen, saß Oma am Küchentisch und weinte. Neben sich hatte sie eine Tasse mit Kaffee stehen, den sie nicht anrührte. Sie konnte ja nicht weinen und trinken auf einmal.

Viele Erwachsene, die Lucy nicht kannte, standen in der Küche herum. Alle waren schwarz gekleidet und machten ernste Gesichter. Aber eine Seele konnte Lucy nirgends entdecken. Seelen mochten es vielleicht nicht, wenn so viele Menschen auf einmal herumstanden. Vielleicht hatte sie sich ja im Wohnzimmer versteckt, oder im Schlafzimmer? Lucy schlich sogar aus der Wohnung und schaute im Hühnerstall nach und beim Schwein. Aber da war sie auch nicht. Lucy seufzte: Dann wäre die Seele vielleicht schon im Himmel – schade, denn wer würde ihr jetzt all die Fragen beantworten, die ihr durch den Kopf gingen. Die beiden Cousins, die sie später im Wohnzimmer fand, in ein „Tintin et Milou“-Buch vertieft, konnten ihr auch nicht helfen. Die beiden, Miggy und Francois, waren zwar ein wenig älter, aber sie sprachen nur französisch. Und Lucy konnte nur „Bonjour“ und „merci beaucoup“. Aber wie „Seele“ auf Französisch hieß, das wusste sie nicht.

Später gingen sie alle aus dem Haus, und vier Männer hoben den Sarg vom Opa auf ihre Schultern und trugen ihn aus den Haus. Alle gingen so furchtbar langsam, und es dauerte sehr lange, bis sie endlich am Friedhof ankamen. Die meisten Gräber sahen sehr schön aus, mit vielen Blumen. Manche hatten Kränze aus kleinen Glasperlen, die in der Sonne glänzten. Nur Opa’s Grab war nicht schön. Es war nur ein schwarzes tiefes Loch und war Lucy etwas unheimlich.
Die Männer stellten den Sarg vor das Loch und dann waren alle still und hörten dem Pfarrer zu, der den Leuten sagte, dass der Opa ein guter Mann gewesen war. Aber von seiner Seele sprach er nicht. Der Pfarrer fing dann an, ein Lied zu singen und alle sangen mit. Es klang nicht so schön, weil alle ein wenig durcheinander sangen und Lucy war froh, als endlich alles vorbei war.
Alle Leute, die auf dem Friedhof waren, gingen dann in ein Gasthaus um zu essen und zu trinken und sich Geschichten über den Opa zu erzählen. Einmal musste sogar die Oma ein wenig lachen. Lucy war froh, denn Oma hatte vom vielen Weinen schon ganz rote Augen gehabt. Aber jetzt saßen meine Tanten und Onkel und meine Eltern neben ihr und trösteten sie. Und Lucy nahm sich auch vor, ganz lieb zur Oma zu sein und ihr eine Weile keine Streiche zu spielen.

Am Abend fuhr Lucy und ihre Eltern wieder mit dem Zug zurück nach Spiez. Sobald der Zug losfuhr, schlief Lucy sofort ein, denn sie war sehr müde. Sie träumte von einer wunderschönen Seele, die vom Himmel herunterwinkte und ein bisschen aussah wie der Opa.

(Ruth Zenhäusern, München, 21. November 2004)