Hauptwörter (Substantive)

Oh je – jetzt wird´s grammatikalisch –
Aber keine Bange. Ich stand in der Schule mit der Grammatik immer auf Kriegsfuß, genauer: Sie interessierte mich nicht. Deshalb wird dieser Beitrag auch nicht theoretisch, sondern soll vielmehr anhand einiger praktischer Beispiele die Lust an den tieferen Strukturen der deutschen Sprache wecken, die für Schreiber grundsätzlich hilfreich sein könnten.

Machen wir uns ein paar kleine Gedanken…

… über etwas Großes, das uns viel zu selbstverständlich ist, als dass wir normalerweise darüber nachdenken: Unsere Sprache. Beginnen wir unsere Betrachtung gleich mit diesem ersten Satz: „Machen wir uns ein paar kleine Gedanken…“

Das ist kein gut gebauter Satz. Es ist ein schlechter Satz, einfach so dahin geplaudert. Es ist vor allem kein guter Anfang für einen Text wie diesen, sollte man meinen. Viel besser wäre ein die Aufmerksamkeit heischendes:

Hallo! Alle mal herhören!

Aber abgesehen davon, dass vermutlich jeder Satz ein brauchbarer Anfang sein kann (wenn es anschließend interessant und verständlich weitergeht) – davon mal abgesehen, hat genau diese erste Satz, der scheinbar so belanglos daherkommt, alle nötigen Eigenschaften, um ihn gewissermaßen gewinnbringend auszuschlachten für unsere Bemühungen, mehr über die Sprache zu erfahren, genauer: Über die deutsche Sprache. Dieser Satz enthält nämlich schon in seinem ersten Teil „machen wir uns mal ein paar kleine Gedanken“ fast alle wesentlichen Elemente von Sprache:

Wort deutscher Begriff aus dem Lateinischen abgeleiteter Begriff
Machen Tätigkeitswort Verb
wir uns persönliches Fürwort Personalpronomen
ein paar Zahlwort Numerale
kleine schmückendes Beiwort zum Hauptwort Adjektiv
Gedanken Hauptwort Substantiv
(nicht vorhanden) schmückendes Beiwort zum Tätigkeitswort Adverb

Dieser Satzanfang ist ja für sich im Grunde bereits ein kompletter Satz ist, auch wenn ihm dann noch weitere Erläuterungen und Satzteile folgen. Was ihm jedoch fehlt, ist ein Adverb, also eine Spezifizierung des Verbs „machen“. Und schon bin ich mit letzterem neuen Ausdruck (Was … fehlt, ist ein Adverb, also eine Spezifizierung des Verbs „machen“) bei einem ganz wesentlichen Merkmal der deutschen Sprache angelangt: Sie neigt dazu*, Substantive auch da zu verwenden, wo ein Verb genauso gut passen und vor allem lebendiger wirken würde:

„Was (…) fehlt, ist ein Adverb, welches das Verb genauer umschreibt.“ Eigentlich schade, dass bei grammatikalischen Betrachtungen üblicherweise die vom Lateinischen abgeleiteten Formen verwendet werden: Warum sagt bzw. schreibt man „Substantiv“ – wo doch das deutsche „Hauptwort“ viel aussagekräftiger ist: Haupt-Wörter sind nämlich genau dies: Die Haupt-Sache in einem Satz, gewissermaßen der „Kopf“ der Sprache, das Allerwichtigste, das für den Überblick des Gesagten zuständig ist.

(Anmerkung: Im Hebräischen ist der erste Buchstabe das Aleph, was nichts anderes heißt als Stierhaupt und gleichzeitig für die Ziffer „1“steht – das Haupt ist also der Anfang von allem und somit das Allerwichtigste.)

* Ist schon klar: Nicht „die Sprache“ neigt dazu, sondern die Menschen, welche die Sprache verwenden. Aber so drückt man sich eben umgangssprachlich aus – und alle verstehen, was gemeint ist.

 

Hauptwörter rammen gewissermaßen feste Pfosten…

…  in den doch recht weichen, nachgiebigen Untergrund der Wirklichkeit, die wir sprachlich zu erfassen und schreibend möglichst stabil festzuhalten versuchen. Wenn man vom „Haupt“ oder“ Kopf“ spricht, meint man eben nicht den „Bauch“ oder den „Arm“ oder das „Bein“ der Sprache, sondern das, was oben drauf auf dem Körper sitzt und ihn steuert: Den Kopf mit dem Gehirn und seinen 20 Milliarden Neuronen und 100 Billionen synaptischen Verbindungen.

Die Haupt-Wörter, könnte man sagen steuern unseren Umgang mit der Wirklichkeit. Sie geben ihr verlässliche Struktur, insbesondere beim Aufschreiben.

Zurück zu meinem einleitenden Satz: „Machen wir uns ein paar Gedanken…“ Das Hauptwort „Gedanken“ ist ein sehr klarer, verlässlicher Pfeiler im Untergrund der Wirklichkeit, denn jeder Mensch weiß ab einem gewissen Alter, was „Gedanken“ sind und vor allem, was sie nicht sind, womit man sie nicht verwechseln darf: Handlungen.

Letzteres, die Handlungen, ist auch ein sehr interessantes Wort, abgeleitet von „Hand„, also dem Körperteil, mit dem wir die Wirklichkeit am stärksten umwandeln. Dabei liegen zwischen Gedanken und Handlungen buchstäblich Welten. Denn Gedanken spielen sich zunächst einmal nur im Inneren des Kopfes ab und haben keinerlei materielle Substanz (außer vielleicht ein paar elektrochemischen Prozessen in den Neuronen und Ganglienverbindungen unseres Gehirns) – wohingegen Handlungen sich direkt auf die materielle Welt außerhalb unseres Kopfes auswirken, zum Beispiel wenn wir mit einem Messer Brot schneiden oder im Zorn mit der Faust auf den Tisch schlagen. Was beide Welten verbindet, die Gedanken mit den Handlungen, das ist das Schreiben.

„Ich schließe das Rohr (mit dem Gugelhupf) zur Gänze“

Ja, die deutsche Sprache, auch in ihrer österreichischen Variante, ist schwer verliebt in die Hauptwörter (alias Substantive) und drückt Sachverhalte, die eigentlich mit einem schmückenden Beiwort (alias Adjektiv) viel eleganter daherkämen, gerne substantivisch aus.

In einer nostalgischen Kochsendung, die das Bayrische Fernsehen dieser Tage aus dem Jahr 1967 recycelt hat, zelebriert ein damaliger österreichischer Starkoch die Herstellung eines Gugelhupf. Ich zappe bei Sendungen dieser Art normalerweise weiter ins nächste Programm, weil ich Essen lieber zu mir nehme als dass ich seiner Herstellung zuzuschaue. Aber diese Kochkunst wurde so charmant altbacken (sic!) präsentziert, dass ich wie bei einem spannenden Krimi einfach zuschauen musste, wie der Gugelhupf vorbereitet und ausgebacken wurde. Und als letzteres, nämlich das Hineinschieben (oh ja, schon wieder ein Substantiv!) des fertigen „Spiralgugelhupf“ in den Backofen endlich den kochkreativen Prozess siegreich abschloss, besiegelte der Meister diesen Akt mit folgendem Satz: „Ich schließe das Rohr zur Gänze.“

Warum hat er nicht gesagt: „Ich schließe das Rohr vollständig“?

Das hätte den Vorgang genauso präzis beschrieben – und wäre irgendwie „leichtfüßiger“ dahergekommen und nicht so gravitätisch substantivisch. Aber im Deutschen liebt man die Hauptwörter offenbar mehr als die schmückenden Beiwörter. Keine Ahnung, warum. Genausowenig wie ich weiß, warum man gerne auch dem Gegenteil huldigt: der massierten Verwendung – pardon: Indem man die Adjektiver gleich mehrfach aneinanderreiht (davon gleich mehr unten).
Heutzutage scheint das auch etwas seltener zu sein als zu meiner Schulzeit und noch lange danach, vor allem dann, wenn ein Inhalt „wichtig“ war oder für „wichtig“ gehalten und entsprechend hervorgehoben werden musste.Und das nicht  nur in Sonntagsreden von Politikern, die ohnehin gerne pathetisch und gravitätisch gespreizt daherkommen, sondern auch in der Alltagssprache. Der zitierte Fernsehkoch lag also durchaus richtig mit einer „Gänze“ und noch dazu im Fernsehen, wo eh alles wichtig ist.

Doch wenn man selbst schreibt, lohnt es sich, beim Überarbeiten der Texte darauf zu achten, dass die Substantive nicht wie Säulen der Ewigkeit den Text gewissermaßen einbetonieren. Klar, Hauptwörter sind hilfreich und sparen „Platz und Zeit“. Aber man kann sie sich vielelicht auch sparen. Kann man, muss man aber nicht unbedingt. Substantive haben durchaus ihre Berechtigung.
(„Beim Überarbeiten der Texte“ – hm, ließe sich das auch „lockerer“ formulieren, etwa so: „… wenn man einen Text überarbeitet“ – also das Substantiv „Überarbeiten“ durch ein Tunswort (alias Verb) zu ersetzen?)

Irgendwo gehört: „Das entzieht sich meiner Kenntnis.“

Das könnte man auch anders ausdrücken, direkter, nicht so umständlich: „Das weiß ich nicht.“ Oder: „Das kann ich nicht sagen.“

Ist typisch für die Neigung, in der deutschen Sprache Substantive auch dazu verwenden, wo Verben möglich wären, also ein mehr lebendiger Ausdruck.

 

Ich will diese Überlegungen abschließen mit dem Hinweis auf ein Buch, das uns die Welt der Wörter, insbesondere der Hauptwörter auf ganz ungewöhnliche Weise erschließt und für jeden Schreibenden ein Muss sein sollte (derzeit leider schwierig, weil das Buch offensichtlich vergriffen ist).

Ein wahrer Wort-Schatz der deutschen Sprache

Wenn einem beim Schreiben nicht das passende (Haupt-) Wort einfällt, bietet sich üblicherweise ein Synonymen-Lexikon als Hilfsmittel an, heutzutage leicht zu erreichen über das Internet. Sehr viel hilfreicher und gründlicher fährt man jedoch mit einem wunderbaren Wörterbuch: Deutscher Wortschatz – ein Wegweiser zum treffenden Ausdruck, begründet von Hugo Wehrle und von Hans Eggers lange fortgeführt. Anders als bei den üblichen Lexika und Wörterbüchern (und der Wikipedia) orientiert man sich bei der Suche in dieser Schatzgrube nicht an der alphabetischen Reihenfolge, sondern an ihrem Sinngehalt und ihrer gedanklichen Verwandtschaft. Die alphabetische Reihung gibt es auch – sie bildet den zweiten Teil. Der erste und wichtigere Teil ist jedoch nach Sachgebieten geordnet, die in sechs große Bereiche untergliedert sind:
Begriffliche Beziehungen (Das Sein, Bezogenheit, Quantität…),
Raum,
Stoff,
Geistesleben,
Gebiet des Wollens,
Gefühlsleben.

Diese Grobeinteilung ist ei nwenig altmodisch und gewöhnungsbedürftig, aber man kommt damit zuirecht. Innerhalb dieser Bereiche geht es immer feiner in die Details, und zwar – soweit möglich – auch jeweils zum gegenteiligen Begriff – also beispielsweise vom „842 Witz“ zur „843 Witzlosigkeit“ und zum „844 Spaßvogel“. Letzteres wird dann immer weiter aufgedröselt in „Spaßvogel, witziger Kopf, Spötter, Schalk etc.“

Praktisch geht man so vor: Wenn man beispielsweise ein Synonym oder einen treffenderen Ausdruck für ein Wort sucht, schlägt man dieses im zweiten Teil nach, sagen wir mal: „Labyrinth„. Von dort wird man weiterverwiesen auf „Windung 248″, Irrgarten 533“ und „Schwierigkeit 704“ sowie auf „labyrinthisch 704“. Geht man mit diesen Auskünften zum ersten Teil und schlägt nach unter „533 Irrgarten“ – so landet man erstaunt bei dem Abschnitt „533 Geheimnis“. Dort findet man nun viele Anregungen, die einem helfen, den wirklich passenden Ausdruck zu entdecken.

Zugegeben, eine recht umständliche und aufwändige Recherche. Man entdeckt dabei (hoffentlich) nicht nur das, was man gesucht hat, sondern manchmal noch alles Mögliche andere, das man nicht unbedingt gesucht hat, das einen aber (wie die drei Prinzen von Serendip) per Zufall zu etwas führen kann, was genau in diesem Augenblick wichtig ist.

(Die „Prinzen von Serendip“ findet man im Wehrle-Eggers nicht – aber bei der Wikipedia sehr wohl, unter dem Stichwort „Serendipität“. Bei Wehrle-Eggers hingegen wird man fündig über den „Zufall“, und zwar bei gleich acht Treffern.)

Klingt alles sehr umständlich – lohnt sich aber. Der Umgang mit diesem wahren Sprach-Schatz-Werkzeug will eben gelernt werden, wie bei jedem Werkzeug.

Bibliographie
Wehrle, Hugo und Eggers, Hans: Deutscher Wortschatz. Ein Wegweiser zum treffenden Ausdruck. (1881) Stuttgart 1961 (14. Auflage). (Ernst Klett).
Erstellt: 12. Okt 2019 / 09:26