Zeit und Rhythmus beim Erzählen
Wenn man nur Tagebuch für sich selbst schreibt, kann man einfach so drauflos plaudern. Sobald man für ein Publikum schreibt, und sei es noch so klein, sollte man sich über allerlei Details Gedanken machen. Man nennt dies die meta-Ebene eines Textes.
Gleich ob man eine kürzere Erzählung schreibt oder einen ganzen Roman: Man schafft ein ganzes Universum mit Personen, Schauplätze und dem Handlungsverlauf. Aber so eine Geschichte hat nicht nur räumliche Dimensionen, sondern auch zeitliche. Bei längeren Texten wie einer Novelle oder einem Roman, die ja in der Regel nicht in einem Rutsch entstehen, lohnt es sich allemal, jeder Szene eine Art „Datumstempel“ zu geben und daraus eine Zeittafel zu erstellen. Diese ZT hilft einem,
° in dem immer komplexer werdenden Geschehen die Übersicht zu behalten,
° auf Anfang und Schluss zu achten (die besondere Aufmerksamkeit verdienen)
° und sich über Lücken klar zu ein (und diese in der ZT entsprechend zu verzeichnen), die noch nicht gefüllt werden konnten – aber irgendwann ergänzt werden sollten.
Zum zeitlichen Verlauf gehört aber noch etwas, das man sonst der Musik zuordnet: Rhythmus. Auch Texte haben einen Rhythmus. Das zeigt sich schon rein äußerlich in der Struktur der einzelnen Seiten:
Jede Erzählung besteht aus Kapiteln, diese aus einzelnen Szenen und diese wiederum aus Absätzen. Letztere nenne ich „Gedankenmodule“. Sie sind die kleinste Einheit eines Textes – und nicht einzelne Sätze oder gar einzelne Wörter.
Wenn man ein gedrucktes Buch an beliebiger Stelle aufschlägt, sieht man sofort diese typograpische Struktur der Absätze:
° S. 218/219 von Daniels Specks Bella Germania (meine letzte Roman-Lektüre): 10 Absätze.
° S. 156/157″ von Pacal Mercierss Nachzug nach Lissabon (meine aktuelle Lektüre):12 Absätze.
° S. 642/643 von Frank Schätzings Der Schwarm (einer der besten SF-Romane der letzten Jahre): 6 Absätze.
° S. 144/145 von James Joyces Ulysses: 12 Absätze
Das letztgenannte Werk, Joyces Ulysses, endet übrigens mit einer Kuriosität: Dem berühmten Monolog der Molly Bloom, der sich ohne Punkt und Komma und jede rhythmische Gliederung duch Absätze von S. 871 bis 933 erstreckt, also über, sage und schreibe, über ganze 62 Druckseiten. Ein nicht zu überbietender Rekord – den man auch tunlichst nicht überbieten sollte. Trotzdem ist dieser Monolog sehr rhythmisch gegliedert, wie man in einer Hörbuch-Fassung leicht überprüfen kann. Für´s Auge des Leser ist das allerdings – naja: Juckpulver. So sollte man es als Autor also besser nicht machen.
Meiner groben Schätzung zufolge hat jede Druckseite ungefähr fünf solcher Grundeinheiten – ein Buch mit 300 Seiten also an die 1.500 Gedankenmodule. Sie bestimmen das, was ich den „Rhythmus“ einer Geschichte nenne (was übrigens nicht nur für Romane und andere Erzählungen gilt, sondern auch für Sachbücher und Autobiographisches). Es leuchtet ein, dass eingestreute „kurzatmige“ Dialoge einem Text einen anderen Rhythmus verleihen als eher „langatmige“ Passagen, in denen viele Informationen geliefert werden, die für das Verständnis und den Fortgang einer Geschichte notwendig sind.
Ich vermute, dass Autoren sich in der Regel nicht allzu viel Gedanken über solche Feinheiten machen. Sie entwickeln irgendwann ihren typischen Stil, und der ist dann eben
° mehr von Dialogen durchsetzt und entsprechend „kurzatmiger“
° oder mehr von längeren beschreibenden Passagen bestimmt und entsprechend „langatmiger“.
Manche wechseln ihren Rhythmus auch von Buch zu Buch, aber wohl kaum, weil sie sich spezielle Gedanken über solche zeitliche Strukturen machen, sondern weil ihr jeweiliger Stoff (oder die handelnden Figuren) danach verlangen. Ich denke jedoch, geschult durch viele Roman-Werkstätten, dass es sich lohnt, über dieses spezielle Werkzeug der Textrhythmik immer wieder einmal nachzudenken.
Weitere Anregungen zur Vertiefung
° Wann spielt Ihre Geschichte „(Hier und jetzt“ eines Gegenwartsromans, historischer Roman im Mittelalter oder in der Römerzeit, Zukunftsroman im Jahr 3012).
° Welchen Zeitraum umfasst die Handlung:
– drei Generationen einer Familiensage wie in den Buddenbrocks von Thomas Mann
– oder ganze historische Epochen wie in der TV-Serie wie Game of Thrones (die ja auf einem Roman-Zyklus beruht);
– siebenmal ein ganzes Jahr auf fast 5.000 Seiten wie bei Harry Potter;
– oder auf 933 Druckseiten nur die 24 Stunden eines einzigen Tages im Leben des Annoncen-Aquisiteurs Leopold Bloom am 16. Juni 1904 in Dublin in James Joyces Ulysses, den man deshalb auch als Bloomsday bezeichnet?
° Gibt es Rückblenden, die Auskunft über Biographie und Motive der einzelnen Figuren liefern?
° Gibt es Vorblenden, die Vermutungen der Hauptfigur (oder des Autors) über die Konsequenzen ihres Handelns anbieten?
° Gibt es, gewissermaßen „nebenher“, ganze Paralleluniversen mit entsprechenden Zeitstrukturen, wie in einem speziellen Untergenre der Science-Fiction, die sich mit solchen Alternate Histories und Alternativen Universen befasst – so in den Romanen Nebenweit und Galaxy Challenger von Heinz Zwack oder in Vaterland von Robert Harris, worin Adolf Hitler mit seinen Nazi-Horden den Zweiten Weltkrieg gewinnt und alles ganz anders wird?
Zum Beispiel: Haruki Murakami
Zu „Romanschreiben und Rhythmus“ aus meinem Archiv noch dieser Beitrag über einen japanischen, in England lebenden und arbeitenden Autor:
„Haruki Murakami, dessen Werk millionenfach in rund vierzig Sprachen verbreitet ist, hält sich „für einen ganz normalen Kerl“. Als wir den japanischen Autor Ende Oktober in Odense auf der Insel Fünen treffen, empfängt er aus den Händen einer dänischen Prinzessin gerade den Hans-Christian-Andersen-Preis in Form eines goldenen Schwans. (…)
In Deutschland ist (…) sein neues Buch erschienen, in dem er erklärt, wie er Schriftsteller wurde und worauf es ihm beim Schreiben ankommt. Es sei sehr wichtig, schreibt er darin, in einem Text von Anfang bis Ende einen fesselnden und soliden Rhythmus beizubehalten. Seine Romane sind deswegen ein bisschen wie Jazz. Auch sein Alltag ist wie Jazz. Er halte auch dort, schreibt er, einen soliden Rhythmus ein, stehe jeden Tag sehr früh auf, mache sich einen Kaffee und beginne zu schreiben, egal, ob er Lust dazu habe oder nicht. Jeden Tag schreibe er zweieinhalb Seiten. Nach fünf oder sechs Stunden sei Schluss, auch wenn es gut läuft, höre er auf. Am Nachmittag absolviert er sein tägliches Lauftraining, selbst wenn er keine Lust habe, zwinge er sich dazu. So gehe es Tag für Tag. Das Wichtigste sei, schreibt er, nie aus dem Rhythmus zu kommen. Oft habe er dabei das Gefühl, ganz allein auf dem Boden eines einsamen Brunnens zu sitzen.
Vielleicht kommt die romantische Magie, von der die dänische Professorin sprach, aus dieser asketischen Versenkung? Er sei ja wohl ein sehr einsamer und ganz auf sich konzentrierter Schriftsteller? Ja, sagt Murakami, wenn es gut läuft, sei das Schreiben ein Traum, in dem er feststecke. Damit es eine gute Geschichte wird, mache er jedes Mal eine Reise tief auf den Grund seiner selbst. Dorthin, wo es eine tiefere Wahrheit gibt, wo es gefährlich und dunkel sei. Man müsse physisch und geistig stark genug sein für diese Reise. Dann genüge es, einfach zu beschreiben, was man dort unten sieht.“
Wunderbares Werkzeug „Zeittafel“
Eine Zeittafel hilft Ihnen, den Ablauf einer Erzählung stets präsent zu halten, sodass Sie neue Einfälle leicht einordnen können. Man kann so eine ZT im Rahmen einer WORD-Datei als Tabelle anlegen oder in Excel. Am komfortablsten ist eine Access-Datenbank – aber die verlangt auch am meisten Arbeit.
Man kann als Grundlage aber auch, ganz locker, Karteikarten verwenden. Wichtig ist, dass Sie leicht Ergänzungen einfügen und das Ganze möglichst auch ausdrucken können.
All dies gilt übrigens nicht nur für Erzähl-Projekte wie einen Roman, sondern auch für die wichtigsten Ereignisse in einem Tagebuch. Sie haben sicher schon einmal einen (tabellarischen) Lebenslauf geschrieben. Stellen Sie sich das mit weit mehr Details und nicht so nüchtern wie für eine Bewerbung vor – und Sie haben rasch eine „Zeittafel des eigenene Leben“. Das lässt sich dann, bei entsprechendem Ehrgeiz und Zeiteinsatz, zu einer Familien-Chronik erweitern.
01. Juli 2018