Serendipität: Die Jagd nach dem Glück

Serendipity ist eng dem Thema „Zufall“ verwandt. Sie handelt gewissermaßen von der Jagd nach dem Glück, das sich als etwas anderes entpuppt als das, was man gesucht hat.
Ein treffliches Beispiel wäre: Ein Mann geht in einen Laden um dort seinen Lottoschein abzugeben. Er sieht die Frau an der Kasse, verliebt sich in sie, dated sie und kann sie als seine Frau gewinnen. Dass er Lotto spielen wollte, hat er völlig vergessen.
Ein nicht so dramatisches Beispiel, kürzlich selbst erlebt:
Im Hauseingang finde ich einen Stapel älterer Ausgaben der Zeitschrift brand eins, den dort jemand von meinen Nachbarn „zum Mitnehmen“ abgelegt hat. Ich kannte dieses Wirtschafts-Magazin bereits, las diese Hefte aber nun mit mehr Muße in aller Ruhe und entdeckte die durchgängig hohe Qualität der Beiträge. Darin wird mit viel Sachkenntnis und Engagement auf der Grundlage des Nachdenkens über Themen der Wirtschaft sehr profund über das gesamte Spektrum der Weltläufte berichtet. Jedenfalls haben mich viele der Artikel interessiert und ich begann zu lesen. Gleich im ersten Heft ging es um das Über-Thema „Geschwindelt“, wo ich auf das Stichwort Entschleunigung zu stoßen hoffte – und nicht enttäuscht wurde. Aber zunächst begegnete mir das Stichwort Labyrinth. Das hatte er ja gar nicht gesucht, aber auf dessen rätselhafte Spuren wandle ich seit meiner Jugend und entdecke es seitdem unaufhörlich in den Büchern, Zeitungen, Magazinen und Filmen, die mir – rein zufällig – „über den Weg laufen“. Dieses spezielle Heft von brand ein, im Hausgang gefunden, ist so ein Beispiel für das, was man Serendipität nennt: Man sucht etwas Bestimmtes – und findet  etwas ganz anderes, was sich als wichtiger oder interessanter herausstellt.

Im Märchen „The Three Princes of Serendip“ des englischen Romanciers und Essayisten Horace Walpole (1717–1797) besitzen dessen prinzliche Helden die legendäre Fähigkeit, unaufhörlich durch Zufall nützliche Entdeckungen zu machen – obwohl sie eigentlich etwas ganz anderes suchen.

Wie ich zu meinem Beruf als Psychologe fand
Noch ein persönliches Erlebnis, das dem eingangs geschilderten recht nahekommt: Nach zwei Fehlschlägen in der Studienwahl (erst Mathematik/Physik, dann Jura) lernte ich bei einem typischen Studentenjob auf einer Messe eine hübsche Psychologiestudentin kennen, in die ich mich verliebte. Da lief dann zwar außer ein paar Begegnungen nichts – aber ich entschied mich aufgrund dieser Zufallsbegegnung, Psychologie zu studieren. Und das war´s dann. Eine wichtige berufliche Entscheidung fürs ganze Leben – aufgrund einer ganz anderen Ausgangslage.
Die Serendipität dabei: Man sucht etwas (Geld durch Studentenjob) und findet – auf dem Umweg über ein zweites Ereignis (Verliebtheit) etwas Unerwartetes, was viel wichtiger ist (ein Studium und dadurch einen Beruf).

Wolfgang Baum – zufällig getroffen Mai 1990 im „Coffe Baum“ in Leipzig

Besucht habe ich: Bald nach der Wende, im Mai 1990, ein Schreib-Seminar am Literaturinstitut Johannes R. Becher in meiner Geburtsstadt Leipzig. Gefunden habe ich: Nach vielen Jahren getrennter Wege meinen Freund Wolfgang Baum und über ihn neue Räume für meine eigenen Schreib-Seminare. Ich wollte eigentlich nur im Coffe Baumeinen Kaffee trinken. Da das sehr begehrt Lokal im Erdgeschoß jedoch hoffnungsvoll überbelegt war, bedeutete mir einer der Kellner, in die darüber gelegene Etage auszuweichen. Dort fand icvh nicht nur einen Platz, sondern geriet auch in eine Veranstaltung, in welcher der damalige Präsident des Deutschen Graphikdesign-Verbandes seine Kollegen in den neuen Bundesländern über ihre Möglichkeiten in plötzlich so groß und „westlich-kapitalisitsch“ gewordenen Deutschland informierte. Dieser Präsident entpuppte sich als mein Freund Wolfgang. Und so kamen wir überraschend nach vielen Jahren, in denen wir uns aus den Augen verloren hatten, wieder in Kontakt. Dass dieses Lokal ausgerechnet „Zum Arabischen Coffe Baum“ heißt, war ein weiterer Zufall:

Es ist ein kultur- und kunstgeschichtliches Baudenkmal (erstmals 1556 erwähnt) und zählt zu Europas ältesten Kaffeeschänken. Seit 1711 wird hier nachweislich Kaffee ausgeschenkt. Zahlreiche Prominente besuchten das Lokal regelmäßig, so trafen sich z. B. seit dem Jahr 1833 Robert Schumann und weitere Musikerkollegen zum Stammtisch im „Coffe Baum“. (Wikipedia)

Auch so kann man eine Wohnung finden
Eine ganze Reihe von Zufällen ereigneten sich rund um das Finden unserer früheren Wohnung in der Seestraße, in der wir von 1982 bis 2011 wohnten, also fast vier Jahrzehnte. Der verrückteste dieser Zufälle war gleich zu Beginn, dass mein ältester Sohn Gregor mit dem ältesten Sohn des Vormieters in dieselbe Schulklasse ging. Der Vormieter wollte nach Kanada auswandern und suchte dringend einen Nachmieter. Weil der Sohn verdutzt meinen Namen erkannte (als die mehr als hundert Zusendungen auf eine entsprechende Anzeige beim Frühstück in der Familie diskutiert wurden), kam unsere Zuschrift wegen der Annonce in der Süddeutschen Zeitung gleich in die erste Auswahl und führte schließlich zum Mietvertrag.
Der andere wirklich haarsträubender Zufall in diesem Zusammenhang war,
° dass ein Pfarrer, hinter dessen Wohnung in der Isabellastraße (mit ebenfalls sieben Zimmern und ebenfalls in einem rosa gestrichenen Haus) wir ursprünglich her gewesen waren wie der, pardon, Teufel hinter der armen Seele,
° sich bald darauf als jemand erwies, der seinerseits sehr an dieser unserer Wohnung in der Seestraße interessiert gewesen war, die nun wir bekommen hatten.
Dieser Pfarrer (für dessen Kollegenkreis ich Jahre zuvor einmal ein Traum-Seminar durchgeführt hatte) kannte zufällig die Hausbesitzerin und war ebenfalls bei ihrem 50. Geburtstag eingeladen, wo sich diese bizarren Koinzidenzen im Partygeplauder offenbarten. München hat ja nur etwas mehr als eine Million Einwohner, da läuft man sich schon einmal über den Weg.

Eine Erbschaft über eine Million Mark wird angekündigt
Etwas verwickelter ist das nächste Beispiel, aber ähnlich serendipisch. Am 08. Oktober 1992 schrieb mir aus Wien eine Journalistin namens Ariane Million:
„Im Rahmen meiner Diplomarbeit über Schreibpädagogik und Schreibtherapie interessiere ich mich für Ihre Liste mit Adressen von Institutionen und Personen, die sich mit Schreibpädagogik beschäftigen. Wäre es mir möglich, dass Sie mir diese Liste bald schicken?“
Ich habe ihr diese Liste umgehend in den Briefkasten gesteckt. Am 12. Oktober 1992, also nur vier Tage später, bekam ich vom Nachlassgericht München die Mitteilung, ein Onkel von mir sei verstorben. Man hätte meine Telefonnummer in seinem Adressbüchlein entdeckt – ob ich bereit sei, den Nachlass für die Verwandtschaft zu verwalten und zu verteilen?
Zufall war schon, dass meine Nummer in diesem Büchlein stand, denn mit diesem Onkel hatte ich seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr gehabt.
Die schon ermittelten Vermögenswerte hatten einen Wert von ziemlich genau eine Million Mark. (Das klingt nach mehr als es ist – nach Abzug der noch zu zahlenden Steuern, anfallende Kosten und Verteilung auf drei Erblinien mit vielen Erbberechtigten blieb davon für die einzelnen Erben nicht mehr so viel übrig.)
Da schluckt man schon mal, wenn man das in Zusammenhang sieht – was ja durch nichts in der Welt in Zusammenhang steht: Eine fremde Person namens „Million“ und eine Erbschaftssumme von einer „Million“.

Sindbad der Seefahrer
Lesenswert und sehr informativ, mit einer Reihe eindrücklicher Beispiele, ist der Beitrag Serendipität in der Wikipedia. Man sollte ihn jedoch, wenn man sich ernsthaft und tiefgründiger mit dem Thema beschäftigen möchte, durch ein Buch ergänzen (das in der Wikipedia leider nicht erwähnt wird): Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton schrieb es mit einer Kollegin Elinor Barbera: The Travels and Adventures of Serendipity. A Study in Historical Semantics and the Sociology of Science.
Wie die Wikipedia verzeichnet, stammt die Geschichte der drei Prinzen von Serendip vermutlich vom indisch-persischen Dichter Amir Khusro (* 1253 in Patiali; † 1325 in Delhi). Ich erwähne dies hier deshalb, weil – oh Zufall – in einer bibliophilen Ausgabe von Sindbad der Seefahrer, die ich Anfang der 6oer Jahre in einem Münchner Antiquariat entdeckte und erwarb, auf S. 80 die „Könige von Serendyp“ eine Rolle spielen. Damals hatte ich keine Ahnung, dass Serendipität für mich einmal ein interessantes Thema werden könnte. Der Sindbad und speziell diese Ausgabe war stets eines meiner Lieblingsbücher – lange bevor ich mich für „seltsame Zufälle“ zu interessieren begann.
Beruflich begann dies eine Rolle zu spielen, als ich für meine Schreib-Seminare die hilfreichen Möglichkeiten entdeckte, welche der Zufall für den kreativen Prozess beim Schreiben spielt. Das wussten schon die Surrealisten um André Breton, die in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch die Straßen von Paris flanierten und Ausschau hielten nach irgendwelchen Gegenständen, die dort zufällig herumlagen, um sich von so einem Objets trouvé zu Texten, Collagen und Readymades inspirieren zu lassen.
Ich begann mit Buchstabenwürfeln zu experimentieren und entdeckte schließlich in den OH-Karten ein Spiel- und Werkzeug, mit dem man inspirierende Zufälle gewissermaßen gezielt und doch völlig überraschend herbeiführen kann.
Man sieht: Es war – und ist noch immer – eine lange Entdeckungsreise von Sindbad der Seefahrer (das erste Buch, das ich 1947 als Siebenjährioger selbständig zu lesen begann) über das Psychologiestudium bis zu meinen heutigen Roman-Werkstätten – die ein Leben lang von sinnstiftenden, die Phantasie anregenden und die Kreativität fördernden Zufällen begleitet war.
#246 – Aktualisierung: 14. Mai 2017 (Erstveröffentlichung: 12. Mai 2017)