Inseln der Entschleunigung: Schreibseminare

Das aktuelle Heft der exzellenten Monatsschrift brand eins befasst sich mit „Geduld“, „Stop it“ und eben mit „Entschleunigung“ – schon im Editorial von Gabriele Fischer kommt der Terminus zweimal vor.
Inzwischen formieren sich auch die Gegner des Begriffs bzw. der Forderung nach Entschleunigung. Ein Berliner Philosoph namens Avanessian positioniert sich aus ausdrücklicher Gegner – versteht den Begriff jedoch nicht psychologisch sondern mehr politisch-gesellschaftlich. Sein Gegenbegriff ist sehr gewöhnungsbedürftig und sperrig: „Akzelerationismus“. Darüber heißt es:
„Meditation und Achtsamkeit, Slow Food und Digital Detox – heute wird gern Entschleunigung gefordert. Der Philosoph Armen Avanessian hält nichts davon.“

Warum komme ich hier im Newsletter auf das Entschleunigen?
Weil dieses geduldige Langsamerwerden ein ganz wesentliches Element beim Schreiben ist. Denken kann man unglaublich rasch. Aber wenn es darum geht, den „Flug der Gedanken“ schwarz auf weiß aufs Papier zu bannen, muss man langsamer werden – und eben „Geduld haben“. Hat man sich gar vorgenommen, einen Roman zu schreiben, weitet sich der Zeitraumn, den man dafür ins Auge fassen muss, bis weit zum Horizont. Selbst wenn man sehr zügig arbeitet und nicht durch „Alltagskram“ oder gar einen anderen (Geld)-Beruf in Anspruch genommen wird, vergehen von der ersten zündenden Idee zum fertigen Manuskript eines Werkes von rund 300 Seiten leicht drei Jahre – und dann hat man noch keinen Verlag. Bis das Buch gedruckt in den Auslagen der Buchhandlung liegt, sind leicht fünf Jahre vergangen.
In Mai-Heft von brand eins wird eine Fülle von eindrucksvollen Beispielen genannt, wie dieser kreative Prozess des geduldigen „Ausbrütens“ aussehen kann:
° Bis ein neues Gesetz im Bundestag Realität geworden ist, vergehen von den ersten Vorschlägen und Diskussionen bis zum Inkrafttreten des Gesetztes leicht zehn Jahre.
° Douglas Lenat, einer der bekanntesten Forscher auf dem Gebiet der „Künstlichen Intelligenz“ ist an seinen Projekt zur Realisierung der KI seit 34 Jahren dran.
° Der Verlag Felix Meiner in Hamburg rechnet sogar mit bis zu hundert Jahren, bis eine der gewichtigen philosophischen Editionen zu Kant oder Spinoza oder Aristoteles fertig vorliegt.

Auch beim Schreiben einer längeren Geschichte, sei es eine Novelle, sei es ein Roman oder eine Biographie, kommen rasch Monate und Jahre zusammen, bis man das Ziel erreicht hat. Ich selbst bin seit 1982, also seit nunmehr 36 Jahren mit einem Roman-Projekt beschäftigt, das erst jetzt allmählich die Form annimmt, die mir „damals“ vorgeschwebt hat. Dieses Projekt hat mich einfach nie losgelassen, obwohl ich parallel dazu viele Seminare durchgeführt und mehrere andere Bücher geschrieben und auch veröffentlicht habe. Wie heißt es so treffend? „Gut Ding will Weile haben“.

Umso wichtiger ist es, diese Reise nicht allein zu machen, sondern sich mit anderen zusammenzutun, die auf dem selben „Trip“ sind.
Deshalb nenne ich meine Schreib-Seminare „Inseln der Entschleunigung“ – denn an so einem Wochenende oder fünftägigem Workshop ergibt sich, in geselliger und inspirierender Runde, das Langsamerwerden wie von selbst, das zum Ausbrüten von Geschichten so wichtig ist.
Quellen (alle in brand eins Nr. 5 vom 01. Mai 2018)
Fischer, Gabriele: „In der Zeit“ (Editorial). , S. 4.
Avanessian, Armen (im Interview mit Koch, Christoph): „Wir haben keinen positiven Zukunftsbegriff mehr“, S.130-133.
Andres, Marc-Stefan und Gaide, Peter: „Nützliche Antikörper“, S. 50.
Böttcher Dirk und Kenzler, Lea-Marie: „Der lange Lauf vor dem Abnicken“, S. 50 (Gesetze).
Täubner, Mischa: „Blick zum Horizont“ , S. 50 (Douglas Lenat).

01. Juli 2018