Archiv und Thesauros

Was beim Schreiben sehr hilft, ist ein gutes Gedächtnis. Aber das Erinnerungsvermögen mag noch so gut sein – ist wird immer Lücken aufweisen und Täuschungen unterliegen. Vieles kann man heute rasch und recht zuverlässig in der Wikipedia nachschlagen, und was man dort nicht findet, lässt sich leicht mittels Google recherchieren. Aber dort ist nicht alles erfasst, vor allem nicht sehr persönliche Informationen oder sehr spezielle. Wenn Sie prominente Vorfahren haben, finden Sie vielleicht im Lexikon einen entsprechenden Eintrag. Aber wie steht es mit bestimmten Anekdoten, die Sie über einen ihrer Urgroßväter mündlich erfahren haben – über den Sie gerne im Rahmen einer Familiengeschichte berichten möchten?
Oder was machen Sie mit einem Zeitungsartikel über “ Pfandflaschensammler“, der Sie anregt, daraus eine Novelle zu gestalten – Aber Sie habe gerade keine Zeit dafür, wollen das später machen, und wenn es dann soweit ist – wüssten Sie gerne, wo sie diesen Artikel abgelegt haben.
Oder in einem anderen Beitrag lesen Sie über eine Malerin, die erst im hohen Alter bekannt und erfolgreich wurde (Beispiel: Carmen Herrera) und streichen sich im Zeitungsausschnitt diese vier Begriffe an: „Malerin“, „Alter (102 Jahre)“, „Erfolg“ und „Herrera“.

Das Hängemappen-Achiv
Nehmen wir mal an, Sie haben bereits ein kleines Hängemappen-Archiv und dort eine HäMa zum Thema „Malerinnen“, wo Sie besagtes Clipping ablegen. Später wollen Sie einen kleinen Essay zum Thema „Erfolg im hohen Alter“ verfassen, erinnern sich an diese Carmen Herrera und würde diese gerne als Beispiel verwenden – aber Sie haben in Ihrem Archiv weder eine HäMa „Herrera, Carmen“ noch eine zu „Erfolg (im Alter)“ oder zu „Alter (hohes)“ – und dass Sie den Artikel in der HäMa „Malerinnen“ abgelegt haben, haben sie längst vergessen.
In der Wikipedia finden Sie zwar einen entsprechenden Artikel über diese Frau – aber der ist sehr allgemein gehalten. Und Google nennt Ihnen – sage und schreibe – 5.080.000 Fundstellen zu „Carmen Herrera“. Da wäre es doch praktisch, wenn Sie das Clipping wiederfinden würden, in dem das für Sie Wichtige erfasst ist:
„Fast 60 Jahre wollte niemand etwas von Carmen Herrera wissen. Jetzt malt sie immer noch, mit 102 Jahren. Und ihre Düsseldorfer Ausstellung ist ein Lehrstück darüber, wie die Kunstwelt funktioniert.“
Kohler, Michael: „Dasselbe in Grün“. In: SZ Nr. 07 vom 10. Jan 2018, S. 11 (Feuilleton) – Artikel → HäMa: Alter

Information Retrieval im „Goldschatz“
Für dieses „Information Retrieval“ (Wiederfinden von Informationen“) ist ein gutes Archiv unerlässlich. Ein Schlüsselerlebnis in dieser Hinsicht war für mich der Thesauros, den der Kybernetiker Prof. Frederic Vester mir vor vielen Jahren in seinem Institut zeigte. Es war ein Aktenschrank mit an die tausend Hängemappen zu Themen unterschiedlichster Art. Vester las sehr viel, forschte zu den unterschiedlichsten Themen (die aber alle etwas mit seinem Hauptthema „Kybernetik“ zu tun hatten) und publizierte fleißig in allen Medien: Sachbücher, Zeitungsartikel, Fernsehsendungen, Funk-Features.
Der Begriff Thesauros stammt aus dem Griechischen, kam über das Lateinische zu uns und heißt wörtlich „Schatz aus Gold“; davon leitet sich unser Wort „Tresor“ ab. Für jeden, der nicht nur gelegentlich etwas ins Tagebuch notiert, sondern viel schreibt, ist es unumgänglich, sich einen ganz persönlichen „Thesauros“ anzulegen. Der muss ja nicht gleich tausend Hängemappen umfassen. Sinnvollerweise fängt man klein an, mit vielleicht 20 Themen, die einen besonders interessieren. Mindestens so wichtig wie dieser Materialspeicher ist jedoch die Quervernetzung der Begriffe – denn erst in dieser Verknüpfung von Informationen zeigt sich Ihre ganz spezielle persönliche Weise, die Welt zu sehen, aus der sich dann Ihre Texte speisen.

Die Datenbank
Die umfassendste Form für so ein Info-Netzwerk ist eine Datenbank. Meine eigener Archiv-DB umfasst nahezu 4.000 Begriffe, die durch Querverweise auf vielschichtige Weise miteinander verbunden sind. Da ich mein erstes Clipping mit etwa 15 Jahren aus der Tageszeitung ausgeschnitten habe, hat sich im Lauf von Jahrzehnten einiges angesammelt. So ein Archiv und seine ständige Pflege sind
° nicht nur wichtig, um Informationen wiederzufinden,
° sondern auch darin zu schmökern, was sehr anregend ist für Phantasie und Kreativität.
Dieses „Stöbern im Archiv“ ist nebenbei, auch noch ein sehr gutes Gedächtnistraining – als „Gehirnjogging“ fast so ergiebig wie das aktive Schreiben eigener Texte.

Drei praktische Tipps zum Starten
Das alles ist natürlich sehr überdimensioniert, wenn man gerade erst anfängt, ein Archiv aufzubauen (zu dem ja auch noch Bücher und Filme und Musik-CDs gehören). Deshalb hier drei praktische Tipps zum Starten:
1. Besorgen Sie sich einen kleinen Container mit 20 Hängemappen als „Starter-Kit“ für Ihr Archiv (erhältlich in jeder größeren Schreibwarenhandlung); dort sammeln Sie das Material zu Ihren wichtigsten Interessen, also beispielsweise „Australien“ (weil Sie mit dem Gedanken spielen, dorthin auszuwandern), „Yoga“ (weil Sie bei den wenigen Pilates-Übungen Lust auf „mehr“ bekommen haben) und „Malen“ (weil dies, neben Schreiben, ein weiteres Hobby ist).
2. Für alle weiteren Themen brauchen Sie einen Ordner, in dem Sie die aufgeklebten Zeitungsartikel (mit einem Hauptstichwort versehen) in alphabetischer Reihenfolge ablegen. Dort versorgen Sie alles, was in den erwähnten „20 Hängemappen“ Ihres Starter-Kits nicht unterzubringen ist, weil zu speziell.
3. In einem WORD-Dokument erfassen Sie begleitend diese Clippings, ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge. Versehen Sie jeden Beitrag mit einer Überschrift, die Sie dann in einem automatisch generierten Inhaltsverzeichnis zugänglich machen.

Mein Vorschlag: Unterteilen Sie das Material nicht zu fein, sondern eher grob – sinnvollerweise anhand der Buchstaben „A“ bis „Z“, weil das sonst rasch unübersichtlich wird. Wenn Sie dann einen Beitrag über „Australien“ suchen, in dem etwas über die australischen Ureinwohner, die „Aborigines“ steht, finden Sie den rasch in der Abteilung „A“. Wenn Sie dort nicht nur die Quelle angegeben haben („Kogler, Wolfgang: „Das Surren der Wurfhölzer“. In: Südd. Zeitung vom 12. Aug 2010) sondern auch noch den Ort, wo Sie das Clipping archiviert haben (Artikel → HäMa „Australien“) – dann finden Sie tatsächlich das, was Sie gesucht haben.
Einen weniger wichtigen Text würden Sie im Ordner unter dem passenden Buchstaben finden. Das ist vor allem bei Querverweisen hilfreich.
Bleiben wir beim Beispiel „Australien“ und nehmen wir an, dass Sie gerne die Musik der Ureinwohner hören, dazu auch schon einige CDs haben. Und nehmen wir weiterhin an, in der Abendzeitung erscheint ein Bericht über ein Konzert mit dem Instrument „Didgeridoo“ der australischen Ureinwohner. Sie haben dieses Konzert besucht, waren begeistert und wollen deshalb den Konzertbericht archivieren. Nun haben Sie schon drei Stichwörter: „Australien“, „Aborigines“ und „Didgeridoo“ – vielleicht sogar noch den Namen des Künstlers und den Titel einer CD (Yiparrka Janawirri: „DIDJE BLOWS THE GAMES“). Wenn Sie nicht das Clipping dreimal kopieren und somit enorm viel Papier und Platz verschwenden wollen, vermerken Sie nur in der WORD-Datei viermal diese Information und geben jeweils den Fundort an, wo das Clipping tatsächlich vorhanden ist:
Australien
Konzert mit Yiparrka Janawirri: „DIDJE BLOWS THE GAMES“ (Network Medien #6759)
Auch → „Aborigines“, → „Didgeridoo“, → Janawirri ,Yiparrka“
(„Kogler, Wolfgang: „Das Surren der Wurfhölzer“. In: Südd. Zeitung vom 12. Aug 2010 – Artikel → HäMa „Australien“)
Aborigines
Didgeridoo
Janawirri, Yiparrka

Jetzt müssen Sie nur noch die kleine Geschichte über einen australischen Ureinwohner schreiben, die Ihnen im Konzert eingefallen ist – oder tatsächlich nach Australien auswandern. Vergessen Sie jedoch nicht, auch diesen Ihren neuen Text zu archivieren:
[Ihr Name] : „Der Zauber der Didgeridoo“ (Kurzgeschichte) → HäMa „Kurzgeschichten, eigene“

Bücher als Quelle für Informationen
In den Medien finden sie ständig Buchempfehlungen. Nehmen wir an, Sie kaufen und lesen diese Bücher. Vor allem in [meine aktuelle Empfehlung) „Früher war alles schlechter“ von Guido Mingels finden Sie eine Fülle von Themen und Anregungen, von denen Sie die wichtigsten bei Gelegenheit wiederfinden wollen. Auch das können / sollten Sie in Ihrem WORD-Thesauros entsprechend vermerken (mit dem Buch als Quelle).
Ich weiß, dass die Anlage und Pflege eines Archivs viel Arbeit bedeutet. Aber je mehr Sie selbst schreiben, je älter Sie werden – umso wichtiger wird dieses Archiv, das nun wirklich zum „Goldschatz“ wird – nämlich als Spiegel Ihrer vielfältigen Interessen und deren Verknüpfung zu nichts weniger als – Ihrem eigenen Leben!
Ihre Existenz rauscht nun nicht mehr so einfach an Ihnen vorbei, sondern verfestigt sich zu wieder auffindbaren Informationen: Das Archiv ist dann so etwas wie eine Erweiterung und Auslagerung Ihres Gedächtnisses. Und vielleicht findet sich, lange nachdem Sie persönlich nicht mehr existieren, jemand, der Sie in diesem Thesauros wieder entdeckt. So wie es mir mit den Tagebüchern meines Urgroßvaters Ferdinand Naumann aus dem Jahr 1886 geht.

Was mein eigenes Archiv angeht…
…  so weiß ich noch heute, was das Thema der beiden ersten Zeitungsausschnitte war, die ich damals im Jahr 1956 archiviert habe:
° Ein Bericht über eine UFO-Sichtung (das Phänomen der „Unbekannten Flugobjekte“ hat mich als Jugendlicher sehr fasziniert).
° Die Stromvernichtungsanlage der Waldkraiburger (Das war ein kleines elektrisch betriebenes Wasserrad, mit dem der pfiffige Stadtrat von Waldkraiburg einen Bach quirlte, um den Stromverbrauch der Gemeinde hochzutreiben und dadurch einen günstigeren Abrechnungstarif der E-Werke zu erlangen – bis der Schwindel aufkam. Eine Geschichte, die mich noch heute amüsiert.)

Aber bitte vergessen Sie nie:
Das Wichtigste werden immer ihre eigenen Texte sein und nicht deren Verwaltung. Dennoch: Je länger sie schreiben und kreativ produktiv sind, umso lohnender und umso wichtiger wird das Archiv mit dem Thesaurus für Sie sein. Analog zum Übersetzen gilt dieser schlaue Spruch: „So wenig Verwaltung wie möglich – so viel wie nötig“. (Bei den Übersetzern heißt das entsprechend: „So textnah wie möglich – so frei wie nötig.“) Letztlich geschieht das Wesentliche
° zunächst in ihrem Kopf,
° dann auf dem Papier
° und endlich im (potentiellen) Leser.
Wie es jemandem ergehen kann, der zu viel Arbeit in sein Archiv steckt, habe ich übrigens in einer Kurzgeschichte phantasiert: „Der Archivar der Zukunft“. Sie finden Sie in meiner Anthologie Blues für Fagott und zersägte Jungfrau (München 2005, Allitera-Verlag – Paperback und E-Book: 140 Seiten. 12,90 €uro / ISBN 3-86520-121-0).
28. Feb 2018 / 14:56 – Erstveröffentlichung im Newsletter IKAros: 15. Jan 2018