Höchstbegabung (Buchempfehlung: Brackmann „Extrem begabt“)

„Extrem begabt“ von Andrea Brackmann

Für wen ist dies hier vorzustellende Buch interessant?
Die darin untersuchten Hoch- und Höchstbegabten sind gewissermaßen die „Motoren“ der zivilisatorischen und kulturellen Entwicklung. Deshalb sollte sich eigentlich jeder einigermaßen gebildete Mensch dafür interessieren, wie diese Persönlichkeiten „ticken“ – und warum – und warum sie manchmal gewaltige Schwierigkeiten haben, mit sich selbst und mit ihrer Umgebung.
Klingt das nicht bereits nach interessantem Stoff für ganze Romane, für das Schreiben überhaupt?
Und ist es nicht gewissermaßen umgekehrt so, dass ohne recht hohe Intelligenz und Begabung Schreiben gar nicht möglich ist? Vor allem sehr erfolgreiche Autorinnen und Autoren stehen geradezu unter Verdacht, hochbegabt zu sein. –

Wenn ich in einem Buch mit Anmerkungen, Unterstreichungen und Querverweisen gar nicht mehr aufhören kann, dann spricht dies für das Werk. Das hier vorgestellte Sachbuch über Höchstbegabung wimmelt nur so von derlei Zutaten von mir. Ich kannte bereits die beiden anderen Bücher der Autorin (Jenseits der Norm – hochbegabt und hochsensibel? und Ganz normal hochbegabt), aus denen ich viel gelernt und begriffen habe.
Aller guten Dinge sind drei. Das sagt sich so leicht. Wenn man, wie Andrea Brackmann, bereits zwei sehr gute Bücher über Hochbegabung und Hochsensibilität verfasst hat – wie will man das mit einem dritten Buch noch toppen? Sie zeigt mit ihrem dritten Sachbuch, dass dies durchaus möglich ist.

Muss man die anderen beiden Bücher gelesen haben, um das neue zu verstehen? Nein. Aber Schaden ist es sicher keiner, den gesamten Hintergrund dieses hochinteressanten psychologischen Themas zu kennen und zu verstehen. Wobei vorab angemerkt werden soll, dass dies zwar Fachbücher von hoher Sachkompetenz aus der Praxis einer Psychologin und Therapeutin sind, aber Frau Brackmann es versteht, ihr Wissen und ihre Kompetenz gut lesbar zu verpacken. Schon die ungewöhnlichen Schicksale, die hier vorgestellt werden, sorgen dafür, dass dieses Werk auch unterhaltsam und immer wieder sogar regelrecht spannend zu lesen sind, wenn sich neue Perspektiven auftun und für Aha-Erlebnisse sorgen.

Das neue Buch ist gut gegliedert, stellt zunächst die Stufen der Hochbegabung  und ihre Formen vor, entwickelt ein Modell der genialen Persönlichkeit und geht dann in Details, wenn die enormen Widersprüche bei vielen Höchstbegabten und Genies aufgezeigt und verständlich gemacht werden.
Spezialthemen wie „Seelische Gesundheit bei Höchstbegabten“ werden ebenso beleuchtet wie das aktuelle Thema der „Resilienz“ (also wie jemand mit Schicksalsschlägen umgeht) und mündet schließlich in speziellen Aspekten wie den Begleiterscheinungen des hohen Alters und wie „Genie und Gesellschaft“ zusammenwirken.

Um Hochbegabung und Genie aus den abstrakten Überlegungen zu lösen, seien hier aus der Einleitung die ganz praktischen Details zusammengefasst. Bei vielen Personen früherer Epochen, bevor man Intelligenz-Messungen mit Tests ersonnen hat und massenweise durchführte, kann man ja nur aus der Biographie Rückschlüsse auf ungewöhnliche Begabungen ziehen. Das gilt logischerweise für relevante Personen der Gegenwart, von denen keine Testergebnisse vorliegen – oder die sich solchen Tests verständlicherweise verweigern. Zu diesen typischen Merkmalen gehören:

„… die extrem frühe Manifestation außergewöhnlicher Begabung, eine stark beschleunigte schulische und akademische Laufbahn, extrem breit gefächerte Bildung, besondere Begabungen auf mehreren Gebieten, herausragende Produktivität sowie die Zuerkennung bedeutender Auszeichnungen.“ (S. 12)

Das neue Buch der Autorin spricht gut für sich selbst. Aber es wäre schade, wenn man die beiden Vorgängerpublikationen nicht kennt, die sehr informativ über einen Gegenstand berichten, der ja immerhin gut drei Prozent der Bevölkerung betrifft (von denen viele keine Ahnung von ihrer Hochbegabung haben dürften) – allein in Deutschland sind das bei einer Gesamtbevölkerung von derzeit 83 Millionen mehr als 2,4 Millionen Frauen und Männer mit einem IQ ab 130.
Geht man gewissermaßen eine Etage höher zu den Höchstbegabten mit einem IQ ab 145 (was für eine Person unter tausend angenommen wird), dann schrumpft das Potential solcher ungewöhnlicher Menschen zwar gewaltig ein – aber es sind allein in Deutschland immer noch mehr als 80.000. 
Die Genies sind dann die noch weit selteneren Ausnahmefiguren, welche die Welt nicht nur erfolgreich organisieren und am Laufen halten (wie man verkürzt von den erfolgreichen Höchstbegabten sagen könnte), sondern mit ihren bahnbrechenden Forschungen und Aktivitäten ganze neue Welten erobern und erschließen. Ihre Zahl kann man nur schätzen – aktuell vielleicht hundert weltweit?

Brackmann zeigt anhand vieler anschaulicher Beispiele, wen man dazu zählen darf. Sehr verdienstvoll ist ihr Anliegen, speziell den Frauen jenen Platz zu verschaffen, dem man ihnen in einer von Männern dominierten Welt auch auf diesem Gebiet bislang gern verweigert hat. Marie Curie ist hier zu nennen, die Physikerin und Chemikerin mit zwei (!) Nobelpreisen und Käthe Kollwitz. die sozial engagierte Künstlerin. Im Buch werden noch viele weitere solcher zu Unrecht oft „im Schatten“ bleibender Frauen detailliert vorgestellt:

° Lise Meitner (eine der Entdecker der Kernspaltung – beim Nobelpreis für ihren Kollegen Otto Hahn leider übergangen);
° Die Jazz-Sängerin Ella Fitzgerald;
° Florence Nightingale, die Reformerin des Lazarettwesens im Krieg und im Frieden;
° die Autorin Toni Morrison (Professorin für Literatur und als erste Schwarzamerikanerin mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet),
° Ada Lovelace (Pionierin des Programmierens und überhaupt der Computerwissenschaft).

Doch nun soll auch die Autorin selbst zu Wort kommen. Aus ihrer Einleitung zitiere ich:

Das Konzept Hochbegabung scheint weitaus vielschichtiger zu sein als bislang angenommen. Zum einen rücken in jüngerer Zeit unterschiedliche Ausprägungsgrade in die nähere Betrachtung, etwa moderate und extreme Hochbegabung. Zum anderen gibt es verschiedene Formen wie intellektuelle, künstlerische, sozial-emotionale oder psychomotorische Hochbegabung.
Welche Merkmale sind kennzeichnend für Höchstbegabte? Welche Unterschiede gibt es zwischen moderat Hochbegabten und extrem Hochbegabten? Findet man Gemeinsamkeiten zwischen naturwissenschaftlich, künstlerisch oder sportlich Höchstbegabten? Die internationale Forschung ist hierzu noch spärlich und fehlt im deutschsprachigen Raum fast völlig. Es bietet sich daher an, die vielfältige biografische und wissenschaftshistorische Literatur zu bekannten genialen Persönlichkeiten zu untersuchen. Nicht alle Höchstbegabten sind im engeren Sinne Genies, aber die meisten Genies sind offenbar intellektuell höchstbegabt. Dies kann bei historischen Persönlichkeiten in der Regel nicht an Intelligenztest-Ergebnissen belegt werden, lässt sich jedoch aus zahlreichen Fakten schließen.
(…) Was sind mögliche Anzeichen einer Höchstbegabung? Woher rühren ihr enormer Antrieb und ihre Schaffenskraft? Wie gelingt es ihnen, ihre Potenziale voll auszuschöpfen? Und wie deutlich sind Übereinstimmungen mit Ergebnissen psychologischer Forschung?

Kleiner Wermutstropfen: Was leider fehlt bei diesem ansonsten hervorragenden Buch, sind Namen- und Sachregister. Das sollte der Verlag für die E-Book-Ausgabe und folgende Auflagen noch spendieren. Gerade Studenten und Fachleute, aber auch Betroffene brauchen so etwas, um mit dem Buch wirklich „arbeiten“ zu können. Die Ausgabe als E-Book ist da allerdings eine Hilfe, weil man darin gezielt nach Begriffen und Namen suchen kann.

Bibliographie
Brackmann, Andrea: Extrem begabt. Stuttgart 2020 (Klett-Cotta). 281 Seiten – 28,00 € – ISBN 978-3-60889258.
dies.: Jenseits der Norm – hochbegabt und hochsensibel? Stuttgart 2005 (Klett-Cotta). 236 Seiten  – 15 €.
dies.: Ganz normal hochbegabt. Stuttgart 2007 (Klett-Cotta). 172 Seiten – 17 €.
Alle drei Titel sind auch als E-Book erhältlich.

Veröffentlicht: 23. Juli 2020