Fascinosum

Der Begriff Fascinosum ist aus dem Sprachgebrauch der Religionswissenschaft übernommen: mysterium fascinosum und mysterium tremendum* sind zwei wesentliche Attribute Gottes: das Faszinierend-Anziehende und das Abstoßend-Schreckliche.
* Mysterium tremendum, das „als schauervoll empfundene Geheimnis“ ist ein Hauptmoment des Heiligen (Rudolf Otto )

In der allgemeinen Psychologie versteht man unter Faszination (von lat. Verzauberung, Verhexung) den Zustand, in dem jemand wie gebannt ist durch Erlebnisse, die zugleich fesselnd und furchterregend sind, die also beides zugleich können:

  • beglücken (mysterium fascinosum)
  • und Grauen erregen (mysterium tremendum).

In der psychoanalytischen Tiefenpsychologie versteht man unter Faszination die Erregung von Libido durch mit starken Gefühlen (Affekte) besetzte Bilder oder Symbole; so kann ein Traumbild den Träumer tagelang, ja jahrelang beschäftigen.

Ich wiederum verstehe unter Faszination zusätzlich und vor allem ein zentrales Geschehen beim Kreativen Prozess, nämliches jenes Ereignis oder jene Idee, welche einen Menschen so neugierig macht und unwiderstehlich anzieht, dass er bereits ist, darüber alles andere hintanzustellen, ja zu vergessen. Wenn im 19. Jahrhundert ein Forscher davon besessen war,

  • die Quellen des Blauen Nil zu entdecken,
  • die Bedeutung der Träume zu verstehen
  • oder die ägyptischen Hieroglyphen zu entziffern,

oder wenn in unseren Tagen jemand

  • sein ganzes Leben der Aufgabe widmet, den sagenhaften Kontinent Atlantis,
  • das Geheimnis der UFOs
  • oder die alles vereinende Weltformel

zu finden – dann kann man sagen, dieser Mensch ist fasziniert von seiner Aufgabe. Es kann auch – und wird natürlich meistens – etwas eher Kleines sein, das jemanden fasziniert: beispielsweise eine Symphonie zu komponieren, einen Film zu schaffen, einen Roman zu schreiben, oder ein schönes Bild zu malen. Aber selbst wenn man nur ein neues Kochrezept kreïren möchte (was dem Fernsehkoch Clemens Wilmenrod zufolge für die Menschheit allerdings wichtiger sein soll „als einen neuen Stern zu erspähen“), muß man zumindest davon einigermaßen gefesselt sein, um Erfolg zu haben. Denn es gibt im Alltag zu viele Ablenkungen, die dies verhindern, wenn man nicht auf dieses Eine (eben das Fascinosum) schaut, sich darauf konzentriert, sich dem dazugehörigen kreativen Prozeß überlässt – und es dadurch zu einem (erfolgreichen) Ende bringt.

Wie wird man Millionär?

In Geldangelegenheiten ist das nicht anders. Wie wird man Millionär? Indem man dieses Ziel unbeirrt verfolgt. Und sei es, daß man 50 Jahre lang immer dieselben Zahlen im Lotto setzt. Die beiden großen Börsenspekulanten George Soros (der sehr gewagte Risiken eingegangen ist) und Warren Buffett (der immer sehr vorsichtig taktierte) haben in ihren autobiographsichen Aussagen dieses unermüdliche Verfolgen finanzieller Ziele – durchaus im Sinne eines Fascinosums – als wesentliche Triebfedern ihrer Milliardärserfolge bezeichnet.

„Wer reich werden will, kümmert sich nicht darum, was er tut. Ihn interessiert nur, was unter dem Strich steht. Den ganzen Tag lang überlegt er einzig und allein, wie er noch mehr Geld machen kann. Und wenn das bedeuten sollte, noch mehr Schuhputzstände aufzustellen, würde er auch das tun.“

(George Soros)

Kern von Blockaden?

Als Faszinosum bezeichne ist eben diese Idee oder Aufgabe, der jemand einen Gutteil seines Lebens oder gar seine ganze Existenz widmet. Meine Vermutung ist übrigens, daß eben dieses Fascinosum den Kern der Blockade ausmacht, die einen Kreativen Prozess zum Stocken bringt. Ob das mit dem anderen Aspekt zu tun hat – dem, welcher von Rudolf Otto als tremendum bezeichnet wird? Das ist gut vorstellbar, denn das Neue, um das es im kreativen Prozess ja geht, hat eben aufgrund seiner Neuigkeit in der Tat auch etwas Erschreckendes.

Quellen
Koenen, Krisztina: George Soros im Gespräch. Frankfurt a.M. 1994 (Eichborn)
Otto, Rudolf: Das Heilige. (1917) München 1979 / 41. – 44. Tsd. (C.H. Beck)
Schroeder, Alice mit Warren Buffett: Warren Buffett : Das Leben ist wie ein Schneeball. (Snowball /New York 2008, Bantam Dell). München 2010 (Finanzbuch-Verlag)
Soros, George: Soros über Soros. (1995) Frankfurt a.M. 1996 (Eichborn)

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