Träume öffne Räume und Zeiten
Können Sie sich vorstellen, dass aus einem Albtraum ein ganzer Roman von tausend Seiten entsteht – weil er seinen Autor zutiefst aufwühlt und nicht mehr loslässt – bis er ihn als Erzählung gestaltet hat?
Davon weiter unten mehr. Hier zunächst eine Annäherung von einer gewissermaßen „ruhigeren“ Seite.
Das Thema „Träume“ ist nicht nur für Schreiber und speziell Romanautoren wichtig und hilfreich. Eben entdeckte ich in der Südd. Zeitung einen Artikel über das Lesen von Büchern und wie schwierig das in Zeiten der Digitalisierung geworden sei – und mittendrin dieser Absatz:
Eine Welt, in der keine Zeit mehr für Literatur wäre, möchte sich niemand vorstellen: Wann würde man da je wieder von der Realität unbehelligt nachdenken. Und wie mögliche Wirklichkeiten im Kopf durchprobieren (außer unbewusst, im Traum)? Wo austesten, was man mit Sprache anstellen kann?
Das ist wunderbar formuliert und führt uns mitten ins Thema dieses Beitrags hinein: … mögliche Wirklichkeiten im Kopf durchprobieren … unbewusst, im Traum
Für viele Menschen gilt noch immer der seltsam sinnleere Satz: „Träume sind Schäume“. Doch wer sich intensiver mit Träumen befasst, kommt zu ganz anderen, positiven Ergebnissen (und dazu muss man nicht einmal Sigmund Freuds in weiten Bereichen noch immer bahnbrechende Studie von 1900 gelesen haben: Die Traumdeutung). Träume können uns in zwei Bereichen sehr inspirieren und bereichern:
° Zum einen im persönlichen Bereich (etwa in der Psychotherapie, wofür Freud sie zutreffend als „Königsweg zum Verständnis des Unbewussten“ charakterisierte),
° zum anderen für alle künstlerischen Aktivitäten.
Bei letzteren sei für die Malerei auf die Surrealisten verwiesen, allen voran Salvador Dali, Max Ernst und Dorothea Tanning; Ferdinand Hodler gestaltete 1891 einen (wohl selbst erlebten) Albtraum in einem mächtigen Querformat mit dem Titel „Die Nacht“. In der Musik nannte Robert Schumann eines seiner Stücke nicht zufällig „Träumerei“ (die Wikipedia widmet dem einen eigenen Artikel). Hier jedoch soll es speziell um die Schreibkünste gehen. Auch hier waren die Surrealisten sehr interessiert und fündig, allen voran André Breton. Für Schreiber, gleich ob hobbymäßig oder professionell können Träume grundsätzlich drei Rollen spielen:
° Träume können dem Autor beim Schreiben seiner Geschichte weiterhelfen und sogar Blockaden lockern, also gewissermaßen selbsttherapeutisch wirken.
° Träume können vom Autor gewissermaßen „befragt“ werden: „Wie könnte meine Geschichte weitergehen?“
° Träume können sowohl in einem Roman direkt eingebaut werden und das Geschehen dadurch auf eine spezielle Eben heben, die mit starken Symbolen und Szenen eine neue Dimension der Erzählung öffnet (Hermann Hesse war hierin ein Meister).
Manchmal kommen alle drei Möglichkeiten zusammen, was ich anhand eines sehr verblüffenden Beispiels aus jüngerer Zeit darstellen möchte:
2004 erschien der Roman Der Schwarm von Frank Schätzing. Diese Science-Fiction schildert die existenzielle Bedrohung der Menschheit durch eine unbekannte, intelligente Lebensform in den Tiefen der Weltmeere. Obwohl am Schluss ein wirklich durchgeknallter utopischer Thriller, wie er früher nur ausgebuffte SF-Fans interessiert hätte, wurde er infolge der großen Erzählkunst und der Aktualität des Themas „Umweltzerstörung“ ein enorm erfolgreicher Bestseller mit Millionenauflage, Hörspielversion, begleitender Dokumentation und demnächst wohl auch Verfilmung. In der Wikipedia hat der Roman sogar einen eigenen Artikel bekommen.
Was hat das mit unserem Thema „Traum“ zu tun? In einem Interview teilte Schätzing mit, dass ihn ein schrecklicher Albtraum gequält habe, der ihn so verfolgte, dass er – gewissermaßen um diesen Traumgeschehen herum – seinen Roman mit tausend Seiten Umfang schreiben musste. Der Traum selbst kommt im Buch vor, ist auf S. 289 geschickt ins Geschehen eingewebt:
Nachdem Anawak nun schon eine ganze Weile durch das tiefdunkelgrüne Universum gefallen war, befiel ihn eine regelrechte Euphorie, und er reckte die Arme wie ein. Ikarus, der sich den Abgrund zum Himmel erkoren hat, berauschte sich am Gefühl der Schwerelosigkeit und sank tiefer und tiefer. Am Grund schimmerte ihm etwas entgegen, eine weite, eisige Landschaft, und der dunkle, grüne Ozean verwandelte sich in einen nächtlichen Himmel.
Er stand am Rande eines Eisfeldes und blickte hinaus auf schwarzes, still daliegendes Wasser, über sich eine Fülle von Sternen.
Frieden erfasste ihn.
Wie wunderbar war es, einfach hier zu stehen. Der Eisrand würde sich vom Festland ablösen und als Scholle durch die nördlichen Meere treiben, immer höher hinauf, mit ihm als Passagier, dorthin, wo keine erdrückende Fragenlast mehr auf ihn wartete, sondern ein Zuhause. Sein Zuhause. Er würde zu Hause sein. Sehnsucht legte sich auf Anawaks Brust und trieb ihm Tränen in die Augen, funkelnde, grelle Tränen, die ihn blendeten, sodass er versuchte, sie abzuschütteln – und tatsächlich spritzten sie in die schwarze See und begannen sie zu erleuchten. Etwas stieg aus der Tiefe zu ihm empor. Das Wasser formte sich zu einer Gestalt, die in einiger Entfernung auf ihn zu warten schien, dort, wo er nicht hingehen konnte. Starr und kristallen stand sie da, das Licht der Sterne gefangen in ihrer Oberfläche.
Ich hab sie gefunden, sagte die Gestalt.
Sie hatte kein Gesicht und keinen Mund, doch ihre Stimme kam Anawak bekannt vor. Er trat näher heran, aber da war der Eisrand, und im schwarzen Wasser schwamm etwas Großes, Furcht Einflößendes.
Du hast was gefunden?, fragte er.
Seine eigene Stimme versetzte ihm einen Schrecken.
Eine Fülle weiterer Beispiele und Autoren…
… ließe sich hier anführen. Das würde jedoch den Platz dieses Newsletters und seine Funktion überfordern. Deshalb hier der Link, wo man auf meiner persönlichen Website http://www.hyperwriting.de noch mehr Belege finden kann zu VOM TRAUM ZUR DICHTUNG , darunter:
Robert Louis Stevenson
Seine „Brownies“ (Heinzelmännchen) spielten ihm im Traum wie auf einer Theaterbühne Geschichten vor, die er am Morgen nach dem Aufwachen sofort zu Papier brachte.
Die französische Krimiautorin Fred Vargas
Im Bett abends, im Dämmerschlaf kommen mir die besten Ideen. Ich plane nicht. Ich versuche, passiv zu sein. Ich schalte meinen Intellekt aus. Ich sammle Einfälle, mache Notizen. Das kann ein Jahr dauern. Dann brauche ich nur noch zuzudrücken wie bei einem Schwamm. Die Erzählung spult sich ab wie in einem Film – mit mir als Zuschauer.
Der schwedische Krimiautor Henning Mankell
„Vor einiger Zeit hatte ich einen furchtbaren Traum. Ich war alleine im Zimmer, und jemand kam herein und sagte, dass jetzt jeder Mensch auf Erden mit Aids infiziert sei. Das kann nicht sein, entgegnete ich. Doch, sagte mein Gegenüber. Es gibt kein Kind mehr, keinen einzigen alten Mann, in keiner Stadt und keinem Dorf, nirgendwo auf der Welt, der sich nicht angesteckt hätte. Das ist das Ende der Menschheit. In diesem Moment wachte ich auf. Und ich sagte mir: Zum Glück war das nur ein Traum. Aber die Erleichterung war nicht von Dauer. Ich lag im Dunkeln, und meine Gedanken begannen zu kreisen…
Philip K. Dick
Der amerikanische Autor gab einem seiner erfolgreichsten und einflussreichsten SF-Romane den Titel Do Androids Dream of Electric Sheep? (deutscher Titel: Träumen Androiden von elektrischen Schafen?). Er wurde von Ridley Scott verfilmt als Blade Runner, mit der Fortsetzung Bladerunner 2049.
Mary Wollstonecraft-Shelly
Ihr Roman Frankenstein, oder der moderne Prometheus (1818) verdankt seine Entstehung und seinen sensationellen weltweiten Erfolg, vielfache Theateraufführungen und Verfilmungen eingeschlossen, ebenfalls einem Albtraum.
Novalis
Und dann ist da noch ein Dichter mit einem Traum, der einer ganzen literarischen und kulturellen Epoche den Namen gegeben hat: Der „Traum von der Blauen Blume“, mit dem Novalis seinen Roman Heinrich von Ofterdingen beginnt und welcher zum Symbol der Romantik geworden ist.
Mein Buch Geheimnis der Träume…
… ist längst vergriffen (erschienen 1985, 1995, 1999) – aber second-hand über Amazon etc. leicht zu erwerben – zu Spottpreisen (ohne Versand) zwischen 0,05 und 0,83 €uro. Zupacken! kann ich da nur raten. Denn es ist ein wirklich gutes Buch. Das Eigenlob sei ausnahmsweise erlaubt bei einer so weit zurückliegenden Publikation, die keineswegs veraltet ist.
Der Übergang zur aktuellen Buchempfehlung ist leicht: Auch hierbei geht es um einen „Traum“, wenngleich einen sehr realitätsnahen:
Was würdest du tun ? (Wie uns das Bedingungslose Grundeinkommen verändert)
von Michael Bohmeyer und Claudia Cornelsen
Der Verein „Grundeinkommen eV“, als Crowdfunding-Plattform gegründet von Michael Bohmeyer, verlost regelmäßig einige durch Crowdfunding finanzierte BDE – um empirisch zu testen, was es bewirkt, wenn jemand es bekommt. Jede(r) kann mitmachen, und zwar wirklich „bedingungslos“. Ist ganz einfach: Auf der Website anmelden: http://www.mein-grundeinkommen.de.
Wenn man Mitglied des Vereins wird und eine kleine Spende für den Verein und / oder den Lostopf macht, wird man zusätzlich zum „Crowdhörnchen“ und nimmt automatisch an jeder Verlosung teil. Das 300. (!) Grundeinkommen wurde am soeben verlost, am 12. März.
Inzwischen gibt es ein Buch, das ich sehr empfehlen möchte, weil es an die Idee des Grundeinkommens, das ja mit sehr viel Ideologie pro und contra befrachtet ist, ganz praktisch herangeht: Die Autoren Bohmeier und Cornelsen haben 24 Gewinner dieses erwähnten Losverfahrens ausgiebig interviewt und sind zu überraschenden Ergebnissen gekommen – man ist versucht, zu sagen: zu sensationellen Funden. In Zukunft wird über das Thema nur mitreden können, wer diese Buch gelesen hat.
Sehr gutes Buch – hochaktuelle Recherche – gut dargestellt. Ein Spezialthema, das darin noch fehlt: Wie sich das BGE auf das Gesundheitssystem der Bevölkerung auswirken und was dies an Soziallasten sparen würde.
Wie eine Art vorweggenommenes Ergebnis dieser Recherche heißt es gleich zu Beginn des Buches:
Wir sind zehn Tage durch Deutschland gereist und haben Interviews mit Menschen geführt, die versuchsweise für ein Jahr ein Bedingungsloses Grundeinkommen beziehen. In den Gesprächen haben wir Dinge erfahren und Sätze gehört, von denen wir niemals zuvor gedacht hätten, dass wir sie hören würden, geschweige denn, dass sie irgendetwas mit Grundeinkommen zu tun haben könnten.
Die Interviews haben alle Argumente, die üblicherweise gegen das Bedingungslose Grundeinkommen vorgetragen werden, widerlegt: das Hängematten-Argument, das Müllmann-Argument, das Inflations-Argument. Obwohl: »widerlegt« ist das falsche Wort. Präziser müsste es heißen: In den Gesprächen wurde deutlich, dasss die üblichen kritischen Fragen irrelevant sind:
Wer geht denn dann noch arbeiten? Legen sich dann nicht alle Menschen in die Hängematte?
Wer macht dann die Arbeiten, zu denen keiner Lust hat? Wer kümmert sich zum Beispiel um die Müllabfuhr?
Wird nicht alles teurer, weil Menschen mit Grundeinkommen mehr Geld ausgeben?
Die Erfahrungen und Erlebnisse, die wir von den Grundeinkommens-Pionieren erzählt bekamen, waren so anders, so vielfältig und facettenreich, dass klar ist: Ein Bedingungsloses Grundeinkommen wirft in der Praxis ganz andere Fragen auf, als man sich in der Theorie ausdenken kann. (S. 13/14)
Und am Ende des Buches erfahren wir:
Dann können sie viel besser Teil von etwas Größerem sein. Das lehren uns die Geschichten von Matondo und all den anderen.
Teil von etwas Größerem zu sein heißt nicht, im Kaninchenzüchterverein den Vorsitz zu übernehmen, sondern das, was Olga uns gesagt hat: dass sie Kraft für Konflikte hat, dass sie nicht wegguckt und nicht mehr weggucken kann. Dass die Gewinnerinnen und Gewinner ihre Ehe wieder ins Blickfeld nehmen, ihre Kinder wahrnehmen, wie sie sind, und sich im Alltag und im direkten Umfeld engagieren.
Dieses Gemeinschaftsgefühl haben wir bei unseren Interviews nur in Mikro-Momenten erspürt, aber möglicherweise ist dieser verbindende Geist mächtiger als jede Gewerkschaft oder Partei. Immerhin haben wir bei Mein Grundeinkommen inzwischen über eine Million »User«, also Menschen, die sich mit der Idee eines Bedingungslosen Grundeinkommens verbunden fühlen -das sind etwa genauso viele Menschen, wie die im Bundestag vertretenen Parteien zusammen an Mitgliedern haben.
»Es ist die Pflicht eines jeden Lebewesens, mit seinem Leben, seinem Reichtum, seiner Intelligenz und seinen Worten zum Wohl anderer tätig zu sein.« Dieses hinduistische Zitat schickte uns der Chemisch-Technische-Assistent Shijar aus Minden, nachdem er ein Grundeinkommen gewonnen hatte. Für ihn bedeutet das, etwas für seinen spirituellen Fortschritt zu tun. Er glaubt, dass mit Bedingungslosem Grundeinkommen die Kriminalität in Deutschland sinken und die Lebensqualität aller steigen würde. »Durch weniger Sorgen und Stress würden die Menschen friedlicher werden, erst dann kann es eine glückliche Gesellschaft geben.«
Bestes Beispiel dafür ist Petra, die mit Grundeinkommen eben doch nicht AfD wählt. Die Krankenschwester Olga macht jetzt bei politischen Diskussionen den Mund auf und geht wieder wählen. Die Lehrerin Viola schaut sich um, in welcher politischen Organisation sie jetzt eine Heimat finden kann. (S. 268)
Flankiert sei es durch das nach wie vor grundlegende Buch von Götz Werner Tausend €uro für jeden. Außerdem hat das Wirtschaftsmagazin brand eins (das der Idee des BGE sehr gewogen ist), wichtige Artikel, welche in diesem Magazin bereits früher publiziert wurden, zu einer sehr lesenswerten Anthologie mit aufschlussreichem Hintergrundmaterial zusammengestellt: Was würdest Du arbeiten, wenn du nicht musst?
Wer das Thema „BGE“ kritisch sieht, sollte sich mal Gedanken darüber machen, dass gerade in den kreativen Berufen (Musiker, Fotografen, Schriftsteller, Regisseure – and many many more), welche unsere Kultur voranbringen und am Laufen halten, die weit überwiegende Zahl in sehr „prekären“ Verhältnissen lebt – was schon Carl Spitzweg mit seinem gar nicht lustigen „Armen Poeten“ denkwürdig charakterisiert und verewigt hat. Und auch an die unzähligen alleinerziehenden Mütter und ihre Kinder sollte man denken, die am Rande der Armut oder schon mitten drin taumeln (40 Prozent der alleinerziehenden Mütter beziehen Sozialhilfe“ – SZ vom 16. März 2019).
Quellen Bohmeyer, Michael und Claudia Cornelsen: ). Was würdest du tun? (mit 1000 € Grundeinkommen). Berlin 2019 (Econ Paperback). 285 Seiten, 16,00 €uro. Werner, Götz und Goehler, Adrienne: 1000 € für jeden. München 2010 (Econ Paperback). Risch, Susanne (Hrsg.) Was würdest Du arbeiten, wenn du nicht musst? (Grundeinkommen). Hamburg 2018 (edition brand eins). Schätzing, Frank: Der Schwarm. Köln 2004 (Kiepenheuer & Witsch). Wollstonecraft-Shelley, Mary: Frankenstein oder der moderne Prometheus (London 1818).
15. April 2019 publiziert (entwurf: 18. März 2019)