Schreiben als Psychotherapie 1: Videokonferenzen könnten anders sein
Die Idee, Schreib-Seminare auch als Webinare anzubieten, also online mit Video-Schalten, hatte ich schon vor einigen Jahre. Es erschien mir ein interessantes Experiment, vor allem auch, weil ich darin eine wirklich moderne Erweiterung des Creative Writing zu einer technischen Variante dessen sah, was ich HyperWriting nenne – im Sinne von Hypertext oder „Schreiben via Internet“. Aber anderes war immer wichtiger. Nun hat die Pandemie das einfach erzwungen – weil der Normalfall des gewohnten Präsenz-Seminars nicht mehr möglich war. –
Der Titel mag zunächst irritieren, vor allem wenn coronabedingt das Home-Office bis sonst wohin steht. Doch Video-Konferenzen haben durchaus therapeutische Qualitäten, vor allem dann, wenn man sie nicht so asymmetrisch inszeniert, wie das sonst bei Konferenzen oder Vorlesungen in der Universität (oder in der Schule) üblich ist: Vorne steht jemand – und die anderen sitzen frontal gegenüber (manchmal sogar etwas tiefer) und nehmen passiv auf, was ihnen da berichtet wird in meistens viel zu langen Vorträgen.
ThemenZentrierte Interaktion (TZI)
Wer (wie ich) mit der Methode TZI arbeitet und in seinen Seminaren stets gleichberechtigt mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Kreis sitzt, ist ganz anderes gewöhnt.
TZI steht für „ThemenZentrierte Interaktion“, eine von der Psychoanalytikerin Ruth C. Cohn (1912-2010) entwickelte Methode, mit Gruppen zu arbeiten. Dabei geht es um drei wesentliche Elemente des kreativen Prozesses, die sich in Dynamischer Balance befinden – das heißt, die Balance geht immer wieder mal verloren – und stellt sich erneut ein, wenn gut gearbeitet wird.
° Da ist zunächst das Thema (Cohn nannte es das „Es“, was etwas verwirrend sein kann, weil Freud damit das Unbewusste meinte – was bei TZI durchaus eine Rolle spielt, wenn auch in anderem Sinn). Jede TZI-Sitzung wird mit der Setzung eines Themas eingeleitet, das individuell im Gespräch bearbeitet und geteilt wird. Das passt wunderbar zu Schreib-Seminaren, weil ja jeder Text ein Thema hat, das schreibend entwickelt wird. In letzterem Fall wird allerdings erst geschrieben (jede für sich) und anschließend vorgelesen und darüber geredet. Es kann durchaus sein, das kein gemeinsames Thema behandelt wird (wie bei TZI üblich), sondern alle das jeweils interessierende eigene Thema be-schreiben. In diesem Fall ist stets „Schreiben“ das gemeinsame Thema. Das Heilsame dabei ist ein Dreifaches:
1. Dass man in aller Ruhe über ein Thema nachdenkt und es dann schreibend entfaltet.
2. Dass man die Ergebnisse interaktiv teilt (Rückmeldung und behutsame Kritik eingeschlossen).
3. Dass in den Texten eine Dokumentation vorliegt, in der man die gefundenen Ergebnisse noch einmal anschauen, überprüfen und ergänzen kann.
° Dann ist da das Wir – also die Gruppe mit ihrer aktuellen, sich im Verlauf des Seminars entfaltenden Dynamik. Solche Interaktivität, behutsam vom Leiter oder der Leiterin moderiert, ist per se heilsam – so wie schon vor Urzeiten das abendliche Sitzen ums gemeinsame Lagerfeuer heilsam war, bei dem man sich die Erlebnisse vom Tag mitteilte und wieder zu einer beschützenden Einheit zusammenfand.
° Und schließlich gibt es das Ich – also die Individuen, aus denen sich die jeweilige Gruppe zusammensetzt.
° Ein viertes Element ist das, was Cohn den Globus nennt – nämlich die Welt, in der sich dies alles abspielt. Eine TZI-Gruppe in der Universität hat andere Randbedingungen als ein privater Schreib-Treff. Ein TZI-Schreib-Seminar in Corona-Zeiten hat andere Randbedingungen wie in der Zeit vor Corona. Und hier kommen die Bildschirmkonferenzen ins Spiel (bei denen das Wort „Globus“ sogar eine zusätzliche Bedeutung erhält, weil via Internet im Prinzip der ganze Erdball an so einer Konferenz teilnehmen kann).
Erinnern – Wiederholen – Durcharbeiten
Auch in der virtuellen Gruppe einer Video-Konferenz kann sich entfalten, was Sigmund Freud 1914 als das Wesentliche jeder Psychoanalyse und jeder Therapie im Titel eines Aufsatzes wunderbar zusammengefasst hat: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten“. Genau darum geht es auch beim Schreiben:
° Erinnern (sei es ein Erlebnis vom aktuellen Tag – oder eines aus früher Kindheit).
° Dies Erinnerte dann wiederholen im Erzählen* (oder Aufschreiben)
° und schließlich das Erinnerte und Wiederholte kritisch durcharbeiten.
Beim Schreiben findet dies zusätzlich noch während des Korrigierens und Redigierens der Texte statt. Auch dies kann, richtig gestaltet, weitere heilsame Effekte haben kann – indem einem nämlich plötzlich Zusammenhänge aufgehen, wie man vorher nicht erkannt hat.
* Freud bezog hierbei auch ein, dass man frühere Gefühle auf den Therapeuten überträgt und beim Anschauen und Interpretieren (Deuten) dieses Sachverhalts sich dann alte Gefühle auflösen können.
Blockaden lösen
Letztere ist auch ohne Begleitung durch einen Therapeuten möglich – hat allerdings seine Grenzen da, wo neurotische Blockaden im Spiel sind. Deren Auflösung gehört jedoch nicht in ein normales Schreib-Seminar; dafür ist eine eigene Schreib-Therapie zuständig.
Aber es gibt leichtere Blockaden und Widerstände gegen Einsichten, die sich auch in ganz normalen Schreib-Seminaren manifestieren und danach auflösen lassen. Ruth Cohn hat dies in einer „Hilfsregel“ ihrer Methode so benannt:
„Störungen haben Vorrang.„
Mit „Störungen“ sind nicht dauerhafte (neurotische) Störungen gemeint, sondern alltägliche Störungen bzw. Blockaden, die eine ungezwungene und kreative Teilnahme am Gruppengespräch (oder am Schreiben) verhindern – zum Beispiel Kopfschmerzen, oder weil man den Geburtstag des Vaters vergessen hat und einem dieser Gedanke dauernd störend durch den Kopf geht, sodass man nicht mehr richtig am Gruppengespräch teilnehmen kann.
Man spricht aus, was einen stört – und damit löst sich die Störung meistens auf. Oder sie wird erträglich, ganz im Sinne des volkstümlichen Spruches: „Geteiltes Leid ist halbes Leid -„
(Der Rat bei einer Schreibsitzung ist es, solche Störungen in einem Begleitenden Logbuch zu dokumentieren; dadurch kann man sie loslassen, sich zunächst einmal dem aktuellen Thema widmen und später auf das „störende Element“ zurückkommen, es im Idealfall erledigen, indem man beispielsweise die Peinlichkeit des „vergessene Vater und seines Geburtstags“ durch einen Telefonanruf erledigt.)
Bildschirmkonferenz als Teil des Globus
Ein Schreib-Seminar besteht grundsätzlich aus zwei Einheiten:
° Nach einer kurzen Einführung (Setzung des Temas für die Schreibsitzung, ggf. eine Mini-Lektion mit handwerklichen Tipps etc.)
° folgt zunächst eine Phase, in der alle für sich allein schreiben.
° Nach einer Pause werden die Texte interaktiv geteilt. Sie werden vorgelesen (eventuell auch nur eine komprimierte Zusammenfassung) und es gibt die Möglichkeit, Feedback zu erhalten („Kritik“ im Sinne von „Literaturkritik“ gibt es bei uns nicht).
Es liegt auf der Hand, dass man die Einführung und gegebenenfalls eine Mini-Lektion (die etwa fünf Minuten dauert), problemlos per Video-Schalte durchführen kann.
Die erste richtige Seminar-Einheit ist also das Schreiben des Textes. Dabei ist es ziemlich gleichgültig, ob man mit den anderen im selben Raum sitzt (Präsenz-Seminar wie vor Corona üblich) oder zuhause in vertrauter Umgebung. Letzteres hat sogar noch den Vorteil, dass man sich eventuell die Anreise und die Hotelübernachtung spart und man zuhause Tun und Lassen kann, was man will.
Das Miteinander in der zweiten Einheit lässt sich ebenfalls sehr gut per Bildschirm organisieren, da ohnehin nacheinander gelesen und geredet wird.
Hierbei kommt dem Chat eine wichtige Aufgabe zu, denn man kann in diesem „digitalen Notizbrett“ vielerlei machen und schriftlich festhalten:
° Zu Beginn eines Meeting sollten sich die Teilnehmer*innen mit Namen und Wohnort vorstellen (vielleicht auch schon mit einem mitgebrachten Thema oder Text-Projekt).
° Der detaillierte Verlauf des Seminars wird quasi von selbst in seinen wesentlichen Details protokolliert und damit sichtbar gemacht sowie für eine Nachbearbeitung dokumentiert.
° Hier kann man auch weiterführende Links einfügen sowie Grafiken, Fotos und Zitate.
° Die Teilnehmer können Kurzfassungen ihrer Texte vorstellen.
° Man kann dem Leiter Fragen stellen, ohne die anderen zu stören.
° Der Leiter kann Titel und Zusammenfassung von Mini-Lektionen einfügen.
Unsere Seminarangebote nützen diese Möglichkeiten in zunehmender Zeitdauer und Komplexität. Die heilsamen Effekte addieren sich dabei, je nach Anzahl der Einheiten „Schreiben + Mitteilen“. Bei der Roman-Werkstatt kommen noch übergeordnete Effekte wie die „Heldische Reise der Hauptfigur“ und die „Heldische Reise des Autors“ hinzu.
Die Enge des Bewusstseins
Die Psychologie kennt den Begriff der „Enge des Bewusstseins“. Dies umreißt die Tatsache, dass wir immer nur einen winzigen Ausschnitt der Realität im Zeitmoment erfassen können – etwa eine drittel Sekunde und dazu enorm reduzierte Informationen über Augen und Hören und die anderen sinnlichen „Kanäle“. Das ist so ähnlich wie beim Blick aus dem Bullauge einer Schiffskabine: Man sieht nur einen Bruchteil dessen, was da draußen links und rechts und oben und unten tatsächlich vorhanden ist (oder hinter einem in der Kabine).
Unsere Sinnesorgane erfassen jedoch sehr viel mehr Informationen. Bei einer Videokonferenz sehen wir auf den einzelnen Kacheln ebenfalls nur einen winzigen Ausschnitt der Realität der Teilnehmerinnen und Teilnehmer: Ihr Gesicht und ein wenig Hintergrund. Alles andere muss die Phantasie oder das Wissen über diese Personen ergänzen.
Unser Gehirn ist jedoch imstande, daraus eine recht lebendige Realität zu erschaffen.
Kreativer Prozess und therapeutischer Prozess sind sehr ähnlich
Beide Male geht es darum, den Vorgang des „Erinnerns und Durcharbeitens“ in Gang zu setzen und etwaige Blockaden abzubauen. Wir hierzu mehr erfahren möchte, kann dies in meinem Buch Kreatives Schreiben – Hyperwriting nachlesen, im 11. und 13. Kapitel.
Ein Webinar ist weniger anstrengend als eines mit Präsenz
Das war für mich die erstaunlichste Erfahrung. Sie wurde mir mehr eben (während ich dies schreibe) bewusst, nachdem ich über Sylvester ein dreitägiges Schreib-Seminar online durchgeführt habe. Das liegt wohl daran, dass man
° zum einen zuhause arbeitend mehr Erholungs- und Rückzugsmöglichkeiten nützen kann
° und zum anderen braucht man im Präsenzseminar viel psychische Energie braucht, um in der Gruppe die eigene „Existenz-Blase“ aufrecht zu erhalten und zu schützen – was in der Online-Version wegfällt: Man ist ja zuhause ganz „bei sich“.
Die Zukunft ist schon um die Ecke
Es wird bereits eifrig mit Video-Konferenzen experimentiert, bei denen Virtual-Reality-Brillen verblüffende 3-D-Effekte erzielen: Man ist dann wie in einem realen Präsenz-Seminar in einem gemeinsamen virtuellen Raum – und sitzt doch bei sich zuhause. Das ist keine Science-Fiction – große Konzerne arbeiten bereits damit.
(Martin-Jung, Helmut: „Fast wie im richtigen Leben“. In: Südd. Zeitung Nr. 301 vom 30. Dez 2020, S. 17)
Jitsi oder Zoom oder Skype oder…
Welches Programm ergibt die besten Video-Konferenzen? Ich habe mit Zoom und Jitsi gute Erfahrungen gemacht, und ebenso mit Skype. Aber Jitsi erscheint mir aus drei Gründen für meine Arbeit in Webinaren am hilfreichsten:
° Die Teilnehmer und man selbst muss das Programm nicht auf den eigenen Rechner laden, sondern braucht nur einen einzigen gemeinsamen Link, den man anklickt – und schon ist man der Video-Konferenz. Wenn man eine Meeting unterbricht – kommt man über denselben Link problemlos später (oder anderntags) wieder in die Konferenz hinein.
° Das Programm ist leicht zu bedienen und vor allem der Chat ist sehr hilfreich.
° Das Programm unterliegt keiner zeitlichen Beschränkung und ist kostenlos.