Kampf mit dem Widersacher: Zwei Modelle

In Ergänzung zur Seminarbeschreibung KAMPF MIT DEM MINOTAUROS hier einige historische und kulturgeschichtliche Anmerkungen:
.

Zwei Modelle für Umgang mit Gewalt und mit Feinden

Grundsätzlich kann der Widersacher in zweierlei Gestalt auftreten (wobei in einem guten Roman beide Aspekte sichtbar werden):

  • als real existierender Gegner draußen in der materiellen Wirklichkeit;
  • als – nicht minder wirksame, ja manchmal sogar weit mächtigere – Teilpersönlichkeit im eigenen Inneren

Das alte Modell für diese Auseinandersetzung ist einfach und brutal die Tötung dieses Gegners. Beispiel: Theseus erschlägt im Labyrinth den Minotauros. Meines Erachtens ist das ein überholtes, ja in höchstem Maße sinnloses und selbstschädigendes Verhalten – insbesondere wenn es um eine Figur im eigenen Inneren geht, die man da umbringt.
Es gibt ein anders, weit sinnvolleres und humaneres Modell. Interessanterweise wird es in der ältesten Geschichte vorgestellt, die uns schriftlich überliefert ist: im gut 5.000 Jahre alten Gilgamesch-Epos. Drei Tage kämpft König Gilgamesch mit dem gleich starken Widersacher Enkidu, den die Götter geschickt haben, um den größenwahnsinnigen Herrscher in seine Schranken zu weisen. Aber weil beide gleich stark sind, geben sie schließlich den sinnlosen Kampf auf – und versöhnen sich. Von da an sind beide die besten Freunde*.

Ob man dem Modell „Theseus vs. Minotauros“ folgt oder dem – wie ich meine – sympathischeren und auch – im modernen Sinne – nachhaltigeren Modell „Gilgamesch vs. Enkidu“, das muss jede(r) für sich selbst entscheiden. Humaner ist die zweite Variante allemal. Und sie ist vor allem, kreativitätspsychologisch betrachtet, die einzig erfolgreiche Strategie*!
.

Beispiele der Weltgeschichte

Die zweite, friedliche Variante lässt sich übrigens auch in der Weltgeschichte beobachten, und da erst seit, geschichtlich gesehen, sehr kurzer Zeit:

  • Ganz anders als nach dem Ersten Weltkrieg, behandelten die Siegermächte das besiegte Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg trotz all seiner schrecklichen Verbrechen sehr rasch eher freundlich als feindlich (natürlich nicht aus Menschenfreundlichkeit allein, sondern primär aus politischen Kalkül); aber in der Folge wurde u.a. auch die vorher so unversöhnliche (angebliche) Erbfeindschaft zwischen Deutschen und Franzosen durch eine behutsame Annäherung und Anfreundung abgelöst (ähnlich, wenngleich viel komplizierter, lief und läuft noch immer die Annäherung zwischen Deutschen und Juden ab);
  • Wie ein Echo auf dieses andere, neue Modell der Zähmung und Versöhnung lässt sich begreifen, was nachdem Fall der Mauer im Herbst 1989 geschah: die Annäherung zwischen Ostblock und Westblock und insbesondere zwischen DDR und Bundesrepublik ohne Blutvergießen und ohne einen einzigen Schuss.
  • Und als drittes modernes Vorbild sei schließlich noch Nelson Mandela genannt, der eindrucksvolle Führer der südafrikanischen Schwarzen.

* Hierzu eine autobiographische Anmerkung: Ich hatte als dreizehnjähriger Schüler in der Klasse einen Widersacher ähnlicher Art. Eines Tages fanden wir am Eingang zur Turnhalle die Boxhandschuhe, welche der Turnlehrer gerade angeschafft hatte. Wie auf Verabredung zogen wir beide die Handschuhe über und prügelten uns eine ganze Weile. Der Kampf ging unentschieden aus. Aber der angestaute Dampf war endlich abgelassen. Und wir waren von da an gute Freunde, gingen zusammen zum Schwimmen und unternahmen ähnliche gemeinsame Aktivitäten. Bis wir uns aus den Augen verloren.
**Das weiß auch die Bibel, wenn sie empfiehlt: „Liebet eure Feiunde.“ Eine Maxime, die einem als Heißsporn in jungen Jahre leicht lächerlich vorkommt – aber die, je ätter man wird, die einzig möglich Art ist, Spiralen sich gegenseitig anheizender Gewalt zu bremsen und abzubauen. Das hat sich nur bei den führenden Politiker vieler Länder noch nicht herumgesprochen.
.
#214 / Letzte Aktualisierung: 03. Februar 2014/14:56