Der Faun

Evviva Italia

Paula gähnte. Sie räkelte sich und öffnete die Augen. Richtig, sie war ja gar nicht zu Hause. Sie war in den Ferien, und sie hatte sich in einem Landhaus in der Toscana ein Zimmer gemietet. Ein Taxi hatte sie hergebracht und der Fahrer hatte beteuert, sie würde es nicht bereuen: er würde sie zu einem wunderschönen Ort, in ein wunderschönes Haus, einfach bellissima, fahren.
Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit, die Dinge immer erst zu prüfen, bevor sie irgendwelche Verpflichtungen einging, hatte sie diesmal dem Taxifahrer zugelächelt und gesagt: „Ok, avanti!“
Nachdem sie ihren schweren Koffer in der Eingangshalle abgestellt und die Signora sie willkommen geheissen hatte, musste sie unbedingt gleich den Garten besichtigen. Das Zimmer konnte warten.
Auch das war nicht üblich für Paula. Am liebsten war ihr sonst, immer zuerst das Zimmer zu sehen und zu wissen, wo sie abends ihr müdes Haupt aufs Kissen legen würde. Ob die Matratze hart genug war, die Aussicht lohnenswert. Und überhaupt war diesmal alles anders. Aber Paula konnte eim besten Willen nicht sagen, woran es lag.
Also, basta mit der Nachdenkerei, sagte sie sich und war gleich in den Garten spaziert. Und hier war sie nun, eingeschlafen in der milden Nachmittagssonne, auf einem gemütlichen Liegestuhl. Sie blinzelte räge, setzte sich die Sonnenbrille auf und liess ihren Blick wieder in dem wunderschönen Garten herumwandern.

Doch was war denn das? Bis eben vorhin stand doch diese Säule leer vor ihr, mitten auf einem kleinen Platz. Und jetzt sass dort – ein Faun! Nicht etwa aus Stein, nein, Paula schien es, als ob er lebendig wäre. Quatsch, sagte sie sich und putzte die Brille, setzte sie wieder auf und schaute erneut auf die Säule. Dort sass er – leibhaftig – und musterte sie von oeben bis unten. Er winkte ihr mit seiner kleinen Flöte zu, grinste unverschämt, als sie ihn ungläubig ansah.
„Nun gut“, dachte Paula, „die Ferien haben ja schon anders angefangen als sonst, und wenns denn schon so ist, dass hier Faune herumlaufen ….
„Komm her, Du halbe Portion“, rief sie dem Faun vergnügt zu. „Setz‘ Dich zu mir. Erzähle mir wie Du hier lebst“.
Sein unverschämtes Grinsen erlosch, und er schaute sie erschrocken an. Das war er nicht gewohnt, dass richtige Erdenmenschen mit ihm zu sprechen anfingen. Manche der weiblichen Gäste erschraken fast zu Tode, wenn er kam, manche kreischten auf und liefen davon, nache fielen in Ohnmacht.
Nun ja, dachte der Faun, mir solls Recht sein, mal so ein exotisches Wesen näher kennenzulernen. Denn meistens vergnügte er sich ja, wie alle Faune, mit den Devas, den Pflanzenfeen oder, wenn sich die seltene Gelegenheit bot, zur Abwechslung mit jungen Hexen.
Er kicherte in sich hinein – denn lange an sich zu zweifeln war nicht seine Sache – und sprang von der Säule. Elegant, wie er dachte, landete er sicher auf seinen Bocksfüssen. Schnell drehte er ein paar Pirouetten um die Säule herum, ohne die Erdenfrau aus den Augen zu verlieren, und plötzlich war er – mit ein paar Sprüngen – neben Paula, setzte sich mit überschlagenen Beinen zu ihr und wippte herausfordernd mit dem Fuss.

„Wie heisst Du denn? Ich bin Paula“. Der Faun gefiel ihr. Er war bloss halb so gross wie sie, aber er schien ein munteres Kerlchen zu sein. „Oh, ich heisse Rabundian – nach meinem Grossvater. Väterlicherseits“, antwortete der Faun, der jetzt erst merkte, dass er für eine Begegnung mit Menschen nicht korrekt gekleidet, d.h. dass er nackt war. Wohl war sein Unterleib mit Fell bewachsen – und an einigen Stellen sogar sehr üppig, aber trotzdem war ihm nicht so ganz wohl bei der Sache. Er hüpfte schnell von der Bank, hüstelte und sagte „bin gleich wieder da“. Und richtig, nach wenigen Minuten war er zurück. Er hatte sich eine Schürze umgebunden – das einzige Wäschestück, das auf der Leine hinter dem Haus noch gehangen hatte. Rabundian posierte vor Paula und prahlte: „Ich koch Dir das beste Essen, das Du je gegessen hast – hier -“ und er zeigte auf die Schürze, da stand „5-Sterne-Koch“.
Paula war amüsiert. Und da ihr Magen nach der langen Reise etwas knurrte, sagte sie: „Nur zu, Du Superkoch, ich habe Hunger“. Aber Rabundian hatte auch damit nicht gerechnet, dass die Erdenfrau sofort auf seinen Vorschlag eingehen würde …. bei den Feen war es üblich, solche Angebote immer dankend abzulehnen, denn es war bekannt, dass Faune zwar gute Liebhaber, aber katastrophale Köche waren. Nun, Faune sind auch intelligent – und so wusste sich Rabundian sofort zuhelfen.

„Möchtest Du nicht vor dem Essen mit mir schwimmen gehen? Es gibt hier einen wunderbaren kleinen See mit köstlich kühlem Wasser !“ Er ging vor Paula her und hinkte leicht, wie sie jetzt bemerkte. „Komm!“ winkte er ihr zu. Paula stand auf und folgte dem Faun zum Ufer des kleinen Sees. „Warte, ich helfe Dir gleich“, sagte er und zupfte am Reissverschluss ihres Kleides. „Ich helfe Dir auch gleich“, rief sie und gab ihm einen Klaps auf die Finger. „Ihr seid ja ganz schön kess, ihr Faune“. Sie ging ein paar Schritte auf das Wasser zu, tauchte einen Fuss hinein, um die Temperatur zu prüfen.

Jetzt erst sah der Faun, wie schön gebaut Paula war, welch runde Hüften sie hatte und was für einen wunderbaren Po. Er seufzte und faltete vorsichtshalber erst einmal die Hände vor seinem Unterleib. Die Menschenfrauen waren ja vielleicht etwas prüde, soviel hatte der Faun schon begriffen. Er zeigte mit einer Kopfbewegung zum Wasser und sagte „Geh Du zuerst“ …. und überlegte fieberhaft, ob er nicht besser gleich zugeben sollte, dass er nicht nur nicht kochen, sondern auch nicht schwimmen konnte. Aber dann würde sie ja möglicherweise die Lust an seiner Gesellschaft verlieren – und das wäre ausgesprochen schade, denn er hatte doch noch so einiges vor mit ihr. Und so schwieg er und schaute etwas beklommen zu, wie Paula mit einem gekonnten Kopfsprung ins Wasser tauchte – ihr Kleid hatte sie, ohne seine Hilfe mit dem Reissverschluss, ins Gras fallen lassen. Ihr Kopfsprung erschien dem Faun wie ein hochakrobatisches Kunststück, ein Augenschmaus in höchster Vollendung, und er wusste, er musste einfach hinterherspringen. Erst lief er aufgeregt noch ein paarmal am Ufer auf und ab. Dann schaute er sich etwas gehetzt um, ob es in den Büschen unliebsame Zuschauer gab. Und endlich sprang er mit einem lauten Platscher ins Wasser.
Da Paula im Umgang mit Faunen sehr ungeübt war, fiel ihr sein seltsames Verhalten nicht auf. Sie dachte „So sind Faune eben“, holte tief Luft und schwamm unter dem Faun durch. Dieser gluckste vor Vergnügen, denn sie hatte ihn dabei mit ihren wunderbaren Hüften leicht am Bauch gestreift.

Der Faun war sich jetzt ganz sicher: er musste sich einfach etwas einfallen lassen, um Ihre Aufmerksamkeit bis zur Dunkelheit zu fesseln. Denn so lange wollte er sie auf keinen Fall weggehen lassen – denn nach Einbruch der Dunkelheit liefen die Faune zu Höchstform auf und entpuppten sich als phantastische Begleiter durch die Nacht.

Plötzlich hatte er eine Idee ……
„Ich zeig‘ Dir mal den Wassertanz der Faune“ – und ehe sich Paula versah, sprang der Faun von hinten huckepack auf ihre Hüften, klammerte sich mit seinen Beinen an ihr fest und sagte „und jetzt versuch mich abzuschütteln. Wenn es Dir gelingt, dann darfst Du Dir was wünschen. Und wenn es Dir nicht gelingt, dann darf ich mir etwas wünschen“.
Paula war überzeugt davon, dass sie den Wicht in fünf Minuten abgeschüttelt hätte, und willigte gutgelaunt ein. Doch sie hatte die Rechnung ohne den Faun gemacht: so sehr sie auch auf und ab hüpfte, untertauchte, auf dem Rücken schwamm ….. nichts half. Es dämmerte, und der Faun sass immer noch oben.
„Das mit dem Wünschen kannst Du Dir abschminken, das Spiel war doch ein fauler Zauber. Ich mache Dir einen Vorschlag im Guten: wir gehen jetzt aus dem Wasser und ich koche für uns zwei etwas Leckeres zu Essen. Ich sterbe vor Hunger“.

Doch dem Faun war absolut nicht nach Essen zu Mute. Durch das Schütteln und die wilde Herumplanscherei war ihm etwas übel – und er hatte auch ziemlich viel Wasser schlucken müssen, denn Paula war nicht gerade zimperlich mit ihm umgegangen. So winkte der Faun ab. Er hatte ganz andere Wünsche als Spaghetti all’pesto oder gebratene Auberginen ….
Paula war nicht traurig drüber, denn ehrlich gesagt, sie hatte nach all der Schwimmerei nicht die geringste Lust, kostbare Ferienzeit mit Kochen zu verplempern.
„Jetzt nur nicht die Gelegenheit verpatzen“, dachte der Faun. „Weisst Du, die Signora kocht für die Gäste, wenn sie wollen – geh doch einfach zum Essen. Sie kocht vorzüglich. Wir können uns hinterher noch ver……“ Er wollte sich gerade bei Paula einhaken und sie zum Haus begleiten, als er von weitem die Signora durch den Garten kommen sah.
So schnell der Faun konnte, riss er sich die Schürze vom Leib, raste hinter das Haus, hängte sie wieder an die Wäscheleine und verschwand in den Büschen. Paula war es, als ob der Faun ihr noch zugerufen hätte „Heute abend, vergiss nicht, um zehn Uhr, bei der Säule…“
„Signora Paula, kommen Sie doch mit uns essen, der Tisch ist gedeckt. Wie gefällt es Ihnen hier bei uns? Wunderschön, nicht wahr?“
Paula nickte. Sie ahnte, dass sie wohl am besten der Signora nichts von ihrer Begegnung sagen sollte …. so schnell, wie der Faun beim Anblick der Signora verschwunden war, liess nicht auf grosse Freundschaft zwischen den beiden schliessen.

Paula sass am Tisch zwischen der Gastgeberin und einigen anderen Gästen. Das Essen schmeckte köstlich und Paula war froh, dass sie sich diese Reise nach Italien gegönnt hatte – denn wo sonst war das Essen so lecker? Und obwohl sie sich bei Wein und Kerzenschein angeregt unterhielten, musste Paula immer wieder an ihre Begegnung von vorhin denken. Ja, als sie an den Faun dachte, spürte sie sogar eine Art freudige Erregung in ihr aufsteigen.
Quatsch, ich habe geträumt, rief sich Paula zurück in die Wirklichkeit. Erstens gibt es keine Faune und zweitens schon gar nicht solche, die sich Küchenschürzen umbinden.
„Signora Paula, noch etwas Wein? Gleich serviert uns Faustina die Nachspeise.“ Paula schaute sich die Menschen am Tisch erstmals genauer an. Es waren alles ganz normale Menschen. Ein buntes Gemisch: einige Italiener, zwei Amerikanerinnen, ein Grieche, und die Signora, die Gastgeberin.
Paula sah, dass sie der Grieche die ganze Zeit ansah – mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, und mit einem Blick ….. ja, wo hatte sie bloss schon mal in solche Augen geschaut? Es flutete warm ihren Rücken rauf und runter, und der Boden schien unter ihren Füssen etwas nachzugeben.
„Ganz schön stark, dieser Wein“, dachte Paula, und nahm noch einen Schluck. Sie prostete den andern zu und beschloss, nicht mehr an Griechenland zu denken, sondern an Italien, denn schliesslich war sie jetzt hier, in der Toscana, und es war alles einfach perfekt.
Eine Viertelstunde vor zehn – es war mittlerweile finstere Nacht geworden – entschuldigte sich der Grieche; er sei sehr müde, er habe heute eine lange Wanderung gemacht – und er wünsche allen eine gute Nacht und einen erholsamen Schlaf. Damit deutete er eine kurze Verbeugung in Richtung Signora an und zog sich zurück.
Fast schien es Paula, als ob der Grieche leicht hinkte, und dass wohl mit seinen Füssen etwas nicht ganz in Ordnung war. Den Schuhen nach zu schliessen hatte er vielleicht Kinderlähmung gehabt, als er noch jung war.
Kurz vor zehn wurde Paula plötzlich unruhig. Sie spürte eine Sehnsucht in ihrem Herzen und ein Kribbeln im Bauch, wie sie es zuletzt als Teenager gespürt hatte. Doch so sehr Paula auch die Schuld demWein geben wollte, die innere Ruhe wollte sich nicht wieder einstellen.
Rasch stand sie deshalb auf, sagte allen gute Nacht und zog sich zurück. Doch sobald sie die Tür des Speiseraums hinter sich zugezogen hatte, rannte sie los, in den Garten, durch die kleine Goldregenallee, wo sie heute nachmittag schon gewesen war, schaute auf die Uhr. Nur nicht zu spät kommen, dachte sie und kam ausser Atem an dem kleinen Platz mit der Säule an.
Hinter jedem Gebüsch hörte sie leise Geräusche, es hörte sich an wie ….
Da. Sie hatte sich doch nicht getäuscht: mitten auf dem kleinen Platz stand die Säule. Und auf der Säule sass, die Beine mit den Bocksfüssen schlenkernd und sie herausfordernd und unverschämt betrachtend – der Faun. Die orthopädischen Schuhe hatte er fein säuberlich nebeneinander unter die Bank gestellt, und dort am Baum hing der Anzug auf einem Bügel.
„Den brauche ich nicht, nachts“, sagte der Grieche und strich sich über sein Fell.
Paula hängte ihr Kleid neben den Anzug, stellte die Schuhe fein säuberlich nebeneinander zu den faunischen Stiefeln, hängte BH und Tanga ins Gebüsch, löste die Spangen aus ihren aufgesteckten Haaren und schüttelte den Kopf, dass die ganze Haarpracht ihren Rücken und die Schultern bedeckte.

Gerade, als die Venus am südlichen Himmel sichtbar wurde, legte sich Paula in das Gras neben den kleinen See und rief „so komm, du halbe Portion, leg Dich zu mir“…. und strich sich dabei genüsslich über das weiche Fell, das ihren Unterkörper bedeckte.

Epilog

Paula wachte auf. Sie tastete neben sich die Decke ab. Nichts. Niemand da.
„Wo ist er?“, murmelte Paula. „Ach, schon wieder von dem Faun geträumt“.

So langsam fragte sich Paula, ob ihr Analytiker doch Recht hatte. Er hatte gemeint, dass sie Männer wohl bloss vertragen könne, wenn sie körperlich klein seien, damit sie die Oberhand behalte. Was er jetzt zu ihrem neuesten Traum wohl sagen würde? Die Küchenschürze würde er sicherlich deuten als Wunsch, von der Mutter oral verwöhnt zu werden ….. Paula lachte leise. Was der Analytiker wohl dazu sagen würde, dass der Faun beträchtliche erotische Qualitäten hatte? Vielleicht würde er sagen: „Frau Silberstein, Sie haben sich eine Hilfsperson erfunden mit einem übergrossen Penis, um mir eins auszuwischen. Sie wollen mir zeigen, dass ich mir nichts auf die Tatsache einbilden soll, dass ich ein Mann bin. Und die Bocksfüsse zeigen deutlich, dass Sie mir sagen wollen, ich solle bloss aufhören, auf grossen Fuss zu leben. Ich glaube, Frau Silberstein“ würde er dann meinen, „Sie trauen sich jetzt erstmals, Ihre Aggressionen gegen mich auszuagieren. Das deutet darauf hin, dass wir Fortschritte mit der Therapie machen.“

Paula drehte sich zur Seite, sie war noch müde und wollte noch ein wenig schlafen, denn die Nacht mit dem Faun war intensiv und lang gewesen. Sie zog die Decke bis zum Kinn, seufzte wohlig und war gerade am einnicken, als sie ein Geräusch aus dem Bad vernahm und eine Stimme, rauchig und tief, die sagte „ich bin gleich wieder bei Dir, ich dusche bloss mal kalt, um wieder munter zu werden.“ Ein paar Flötentöne später umschlang Paula jemand von hinten, lachte ihr ins Ohr und fragte: „Was hältst Du von einem kleinen Faun-Tanz“?

(Ruth Zenhäusern 17. und 18. März 2002)